Die Darwin-Kinder
Kaye. »Meine Kollegin Dr. Elizabeth Cantrera hat sich ein ganzes Jahr lang mit dem Nachweis dafür befasst, dass FasL und alle anderen uns bekannten Schutzgene intakt und aktiv bleiben, wenn wir die ERVs ausschalten. Tatsächlich gehen wir derzeit der Möglichkeit nach, dass ein LINE-Element, das seinerseits vom Schwangerschaftshormon aktiviert wird, FasL reguliert.«
»Das habe ich in Ihren Unterlagen gar nicht vermerkt gefunden«, sagte Nilson.
»Wir haben drei Aufsätze, die sich damit befassen, in den Proceedings of the National Academy of Science veröffentlicht.« Kaye nannte ihm die Ausgaben und Seitenzahlen und Nilson schrieb alles geduldig mit. »Es ist mittlerweile unstrittig, dass die Unterdrückung der Immunantwort, für die bestimmte, von endogenen Retroviren abstammende Partikel sorgen, zur Schutzausrüstung eines Embryos gehört. Das haben wir wieder und wieder nachgewiesen.«
»Mir geht es vor allem um den Beweis, dass die Reduktion des Corticotropin freisetzenden Hormons nach Ende der Schwangerschaft unverzüglich zur Expression solcher ERVs führt, die Arthritis und multiple Sklerose auslösen können«, sagte Nilson. »In diesem Fall reagieren die ERVs nicht auf einen Anstieg, sondern auf einen deutlichen Abfall im Hormonspiegel. Und es sieht ganz danach aus, als würden sie damit Krankheiten verursachen.«
»Interessant«, bemerkte Cross. »Dr. Rafelson?«
»Es ist eine brauchbare Hypothese. Die Frage, wann, wie, wo und warum ERVs falsche Immunantworten auslösen können, eröffnet noch reichlich Raum für weitere Forschungen. Es ist durchaus vorstellbar, dass mit Stress verbundene Hormone eine solche Expression von ERVs steuern. Das würde auch erklären, welche Rolle derartige Hormone – und Stress ganz allgemein – bei diesen Störungen innerhalb des Immunsystems spielen.«
»Also gut, womit haben wirs zu tun, Dr. Rafelson?«, fragte Nilson und bedachte sie mit einem scharfen Blick. »Sind Viren gut oder böse?«
»Wie alles in der Natur sind sie sowohl das Eine als auch das Andere oder sogar beides gleichzeitig, das hängt von den Umständen ab«, erwiderte Kaye. »Die Schwangerschaft ist eine heikle Zeit. Nicht nur für die Mutter, sondern auch für das Kind.«
Cross wandte sich Sharon Morgenstern zu. »Dr. Morgenstern hat mir schon im Vorfeld dieser Sitzung einige ihrer Fragen gezeigt. Es sind Fragen, die sich zwingend stellen, wirklich ausgezeichnete Fragen.«
Morgenstern beugte sich vor und sah Kaye und Liz an. »Ich will meinen Fragen eine Bemerkung vorausschicken: Obwohl ich oft mit Dr. Nilson übereinstimme, bin ich in diesem Fall der Ansicht, dass sich in Dr. Rafelsons Laborverfahren teilweise vorgefasste Meinungen beziehungsweise falsche Annahmen ausdrücken. Ich habe den Verdacht, dass Dr.
Rafelson hier angetreten ist, um nachzuweisen, dass bestimmte Dinge nicht machbar sind – also nicht, um zu prüfen, wie sie realisiert werden können. Und jetzt sollen wir ihr ein Forschungsergebnis abnehmen, das besagt: Embryonen brauchen ein vollständiges Sortiment von alten Viren in ihren Genen, um lebend auf die Welt zu kommen oder es gar bis zur Geschlechtsreife zu schaffen. Kurz gesagt, zäumt sie das Pferd vom Schwanz auf, indem sie nach Belegen für eine umstrittene Theorie sucht, nach der sich die Evolution auf Viren gründet.
Es ist leicht zu durchschauen, dass ein solcher Nachweis den sozialen Status ihrer eigenen Tochter heben würde. Wenn derart starke, von Emotionen bestimmte Motivationen die wissenschaftliche Arbeit prägen, ist bei mir Misstrauen angesagt.«
»Zielt Ihre Kritik auf etwas Bestimmtes ab?«, fragte Cross milde.
»Eigentlich auf eine ganze Reihe von Punkten«, erwiderte Morgenstern. Liz reichte Kaye eine hastig gekritzelte Notiz, die sie unverzüglich überflog: Morgenstern hat in den letzten fünf Jahren zwanzig wissenschaftliche Aufsätze gemeinsam mit Jackson verfasst und veröffentlicht. Sie ist seine Gewährsperson im Gutachterausschuss von Americol.
Kaye stopfte den Zettel in eine Seitentasche ihrer Jacke und hob den Blick.
»Als Erstes möchte ich Zweifel daran anmelden, dass…«, fuhr Morgenstern fort.
Damit eröffnete sie einen wahren Frontalangriff, der alles, was vorher gesagt worden war, als harmloses Geplänkel erscheinen ließ. Kaye schluckte, versuchte, ihre Nackenmuskeln zu lockern und dachte dabei an Stella auf der anderen Seite des Kontinents, die ihre Zeit in einer von bigotten Menschen geführten Schule vergeudete. Und an
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