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Die Darwin-Kinder

Die Darwin-Kinder

Titel: Die Darwin-Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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zeigten, dass er nicht nur der liebevolle Vater Mitch war, alle Gefühle, die er sich seit mehr als elf Jahren verbot, verbarg er in dieser Schublade – mitsamt den alten Träumen. Träume, in denen es um die Mumien ging, die er in den Alpen entdeckt hatte. Wie oft hatten ihn unheimliche, vielleicht auch unwesentliche Spekulationen verfolgt, wie oft hatte er über die Situation der lange verstorbenen Neandertaler nachgedacht, über die Mutter, den Vater und den mumifizierten Säugling, der die Merkmale einer jüngeren Epoche trug. Nicht lange, nachdem sie dieses Kind zur Welt gebracht hatten, waren die Eltern in der Kälte, in der tiefen eisigen Höhle, gestorben.
    Mittlerweile blieben diese Träume aus. Mitch träumte so gut wie gar nicht mehr. Allerdings war sowieso nicht mehr viel vom alten Mitch übrig. Der alte Mitch war ausgebrannt.
    Zurückgeblieben war nur ein versteinertes, gestähltes Skelett, das sich Stellas Papa nannte. Er wusste nicht einmal mehr, ob seine Frau ihn noch liebte. Schon seit Monaten hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen. Sie hatten keine Zeit, an solche Dinge zu denken. Keiner von beiden beschwerte sich darüber; es war einfach so, dass einem jede Kraft oder Leidenschaft abhanden kam, wenn man ständig unter Sorgen und Belastungen litt.
    Mitch hätte Fred Trinket umgebracht, wären da nicht diese Polizisten und die Eintreiber des Krisenstabs gewesen. Er hätte dem Mann den Hals umgedreht, dem Dreckskerl direkt in die schockierten Augen gesehen und die Sache dann zu Ende gebracht. Mitch ließ sich die Szene durch den Kopf gehen, bis er merkte, dass sein Magen zu revoltieren begann. Mehr denn je konnte er sich in den Vater aus der Zeit der Neandertaler hineinversetzen.
    Noch zwölf Kilometer. Sie hatten den Stadtrand von Pittsburgh erreicht. Links und rechts der Straße forderten aufdringliche Werbetafeln dazu auf, Autos oder mobile Häuser mit Geldern zu kaufen, die Mitch nicht besaß. Jenseits der gebührenfreien Schnellstraße standen dicht an dicht schäbige kleine Häuser und große steinerne Industriegebäude, die schmutzig und düster wirkten. Den winzigen Park mit knallroten Schaukeln und Picknicktischen aus Plastik bemerkte Mitch kaum, da er nach der richtigen Abfahrt Ausschau hielt.
    »Hier geht’s lang«, teilte er Kaye mit und bog ab. Er warf einen kurzen Blick nach hinten: Kaye hielt Stellas schlaffen Körper in den Armen. Der Anblick von Mutter und Tochter erinnerte ihn an eine Skulptur, an die Pietà. Er konnte solche Vergleiche, wie sie oft genug auf den oppositionellen Web-Sites auftauchten, nicht ausstehen. Dort setzte man die neuartigen Kinder gern mit Märtyrern oder Christus gleich. So etwas verabscheute er gründlich. Das Schicksal der Märtyrer war zu sterben. Auch Jesus hatte einen schrecklichen Tod erlitten – verfolgt von einem mit Blindheit geschlagenen Staat und einem unwissenden, blutrünstigen Mob. Dieses Schicksal würde Stella ganz gewiss nicht erleiden. Stella würde noch ein langes Leben vor sich haben, wenn Mitch Rafelson längst verrottet war. Wenn von ihm nur noch ausgedörrte Knochen übrig sein würden. Im Übrigen konnten solche Knochen ja durchaus interessant sein.

    Das Haus, das Sicherheit bot, befand sich in einer wohlhabenden Gegend. In dieser Vorstadt hatten die Anwesen mit ihren großen Baumbeständen nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Land rund um das kleine Holzhaus, das sie in Virginia bewohnt hatten.
    Der letzte wirtschaftliche Aufschwung hatte den großen neuen Häusern tadellose Zufahrtsstraßen aus Asphalt und Beton beschert. Hier waren die Wege links und rechts von neu errichteten Steinmauern eingefasst, die sich diskret hinter ausgewachsenen Kiefern verbargen und nur von schwarzen, mit Stacheln bewehrten Eisentoren durchbrochen wurden.
    Nachdem Mitch die Hausnummer entdeckt hatte – sie war auf die Mauer am Straßenrand gemalt –, hielt er mit dem Dodge vor einer kleinen überdachten Tafel mit einer Nummerntastatur. Beim ersten Mal verwechselte er einige Ziffern des Zahlencodes, sodass die Tafel summte und ein kleines rotes Warnlämpchen aufblinkte. Beim zweiten Mal glitt das Tor sanft auf. Er hörte, wie die Blätter der Ahornbäume, die sich über die Einfahrt wölbten, leise raschelten. »Wir sind fast da«, sagte er.
    »Beeil dich«, erwiderte Kaye leise.

    29
    Joseph-Goldberger-Spezialschule,
    Krisenstab Ohio,
    Einrichtung der zentralen Bezirksverwaltung

    Ein kleines Kontingent der Nationalgarde des Staates Ohio

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