Die Darwin-Kinder
gesprochen.
Ihr bewusster, kritischer Verstand, der sich vor allem mit praktischen Dingen beschäftigte – die Gebieterin in gestärkten Röcken, die streng über Kayes Leben wachte –, sagte ihr: Du spielst Tarot mit deinem Hirn, das ist doch sinnlos. Es wird nichts als Probleme mit sich bringen.
Gleich darauf rief Kaye mit angespannter
Erwachsenenstimme den Bäumen etwas zu, das fast wie ein Fluch klang: Du hast eine göttliche Offenbarung erlebt!
Als wollten sie darauf antworten, begannen die Grillen und Frösche wieder zu lärmen.
Schließlich war dieser innere Konflikt nicht mehr auszuhalten. Kaye, die immer noch auf den Holzplanken stand, sank langsam auf die Knie. Sie hatte das Gefühl, eine kostbare Fracht mit sich zu tragen, die nicht über Bord gehen durfte.
Gleich darauf beugte sie sich vor und legte die Hände flach auf das raue, verwitterte Holz.
Sie musste sich hinlegen, sonst würde sie umfallen. Während sie langsam und tief durchatmete, streckte sie die Beine aus.
47
Ohio
Augustine hatte sie in zwei Gruppen aufgeteilt, wobei die erste acht Schülerinnen und Schüler umfasste und die zweite sieben.
Tobys Gruppe hatte die erste Schicht übernommen, von zehn Uhr abends bis drei Uhr morgens. Die Lehrer und Krankenschwestern trugen diejenigen, die von der Gruppe ausgewählt worden waren, auf ein Sportfeld und legten sie dort im Schein des blauen Flutlichts in Reihen nieder. Trotz der frühen Morgenstunde war es warm.
Lautlos übertrug Toby seine Aufgaben anschließend einem Mädchen namens Fiona. Ihre Kommunikation bestand fast nur in einer Berührung der Handflächen und im gegenseitigen Beschnüffeln einer bestimmten Stelle hinter den Ohren.
Danach streckte sich die erste Gruppe auf den Feldbetten aus, die inzwischen in Trasks Büro aufgebaut waren.
Fiona und die anderen Mitglieder der zweiten Gruppe folgten Augustine die Stahltreppe hinunter ins Hauptgeschoss.
Bis zur Morgendämmerung halfen Fiona und die anderen Augustine dabei, die verschiedenen Gebäude zu durchforsten.
Sie gingen zu jedem Kind, ob es auf einem Feldbett lag oder auf Bettzeug, das über den Beton- oder Holzboden gebreitet war, ob es in einem der Stockwerkbetten in den ehemaligen Zellen oder im Wohnheim schlief. Sie beugten sich über die Kranken und sogen die Luft über deren Köpfen ein. Mit ein, zwei Fingern zeigten sie an, wer zu den Stärksten zählte und wer wohl nur noch den nächsten Tag überstehen würde.
Ein Finger bedeutete, dass das Kind wahrscheinlich sterben würde.
Nach acht Stunden harter Arbeit hatten sie rund sechshundert Kinder auf diese Weise untersucht. Sie hatten mit denen angefangen, die am schlimmsten dran waren, und deshalb schon fast alle besucht, die im Sterben lagen oder gerade gestorben waren. Die Kinder beider Gruppen waren schweigsam und erschöpft.
Weitere Kinder boten sich als Freiwillige an und bildeten eine dritte, vierte und fünfte Gruppe, ohne dass Toby oder Augustine Einwände dagegen erhoben.
Während die ersten beiden Gruppen schliefen, untersuchten die neuen Helferinnen und Helfer weitere neunhundert Kinder.
Vierhundert davon wählten sie dazu aus, in Begleitung der Lehrer auf das Sportfeld umzuziehen. Die meisten waren in der Lage selbstständig hinüberzugehen konnten. Auf dem Platz wies man ihnen alte Zelte zu, die als „Notunterkünfte für Häftlinge“ gekennzeichnet waren.
Bis nach zehn Uhr morgens halfen die tapfersten Kinder den verbliebenen Lehrern, Krankenschwestern und Wachleuten dabei, die Toten zu bergen. Sie trugen die Leichen, die in Laken, in die letzten noch übrigen Leichensäcke oder auch nur in doppelte Müllsäcke gehüllt waren, zum fernsten Winkel innerhalb der Umzäunung hinüber, zum Parkplatz der Angestellten. Dort betteten sie die Toten zwischen die wenigen Fahrzeuge, die hier und da noch herumstanden.
Middleton sorgte für eine Umgestaltung der Räumlichkeiten, sodass sie die Leichen später in der großen Turnhalle neben der Krankenstation aufbahren konnten. Bis elf schafften sie es, die Leichen vom Parkplatz – auf dem sie der Sonne ausgesetzt gewesen waren – in die Turnhalle zu überführen.
Nach Augustines Schätzung blieben ihnen vielleicht noch zehn oder fünfzehn Stunden, bis die Leichen eine unerträgliche Belastung darstellen würden. Zwanzig, bis sie die Gesundheit aller gefährdeten.
Um zwölf Uhr mittags fiel Augustine einfach um, nachdem er, halb blind vor Erschöpfung, durch eine Reihe von Notbehelfszelten
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