Die Darwin-Kinder
weder Gesicht noch Gestalt. Und dennoch war das Bad in dieser kühlen, wunderbaren Quelle so tröstend, als habe sie all ihre Vorfahren, alle weisen, liebevollen, großartigen, mächtigen Familienmitglieder, denen sie nie begegnet war, gleichzeitig um sich versammelt. Als schenkten sie ihr all die bedingungslose Liebe und Akzeptanz, die sie dem Kind Kaye mit ihren schützenden Armen gegeben hätten, wäre dazu Gelegenheit gewesen. All das vermittelte die Quelle – und noch mehr.
Denn der Rufer, der sie so sanft und gleichzeitig so eindringlich ansprach, war, anders als ihre Lieben, nicht aus Fleisch und Blut.
»Bitte nicht jetzt«, bat sie. Mit dem Wohlgefühl kam die Angst, die letzte Verbindung zur Realität zur verlieren. Der Rufer war ihr vertraut, dennoch hatte sie ihn lange verleugnet und war ihm ausgewichen. Aber er zeigte weder Zorn noch Unmut. Nur bedingungslose Zuneigung.
Aber war da nicht auch gespannte Erwartung? In seinem Verlangen, sie anzurühren und sich ihr zu offenbaren, verstieß der Rufer gegen alle Regeln, ging jedes Risiko ein. Dass auch er Sehnsucht kannte, bezauberte Kaye.
Plötzlich machte Kaye den Mund auf, um ihre Lungen mit Sauerstoff zu füllen. Komisch, dass ihr Atem einen Augenblick gestockt hatte. Komisch, aber überhaupt nicht erschreckend.
Eher so, als erlaube sich jemand einen kleinen Scherz mit ihr.
»Hallo«, sagte sie beim Ausatmen, ließ die Schultern hängen, entspannte sich, schob die Zweifel beiseite und gab ihren Empfindungen nach. Ihr war zwar klar, dass sie nicht auf immer und ewig anhalten würden, aber sie hätte es sich gewünscht. Es würde wehtun, sich wieder so zu fühlen wie noch vor wenigen Minuten. Und in dem Leben davor.
Allerdings wusste sie, dass dieser Schmerz notwendig war.
Sie war noch nicht fertig mit der Welt. Und der Rufer wollte ihr die Freiheit zu eigenen Entscheidungen geben. Er hatte nicht vor, sich einzumischen und sie von sich abhängig zu machen.
Kaye ging zur Hütte zurück, um nach Stella zu sehen und bei Mitch hereinzuschauen. Beide schlummerten friedlich. Stella schien wieder etwas Farbe zu bekommen. Auf ihren Wangen waren Fleckenmuster zu sehen, die aufleuchteten und wieder verblassten. Sie hatte die Krise eindeutig überwunden.
Kaye kehrte zur Anlegestelle zurück, blieb dort stehen und genoss den Anblick des Waldes in diesen frühen Morgenstunden. Sie hoffte und wünschte sich, dass diese Schönheit, dieser Friede nie vergehen, sie jetzt und immer umgeben würden. Ihr bisheriges Leben war allzu sehr von Kummer, Schmerzen und Angst geprägt gewesen.
Und trotzdem begriff sie: Es kann nicht anhalten. Noch nicht.
Es lag noch zu viel vor ihr. Miles to go before I sleep. Später verlor sie jegliches Zeitgefühl.
Jenseits der Bäume zog im Osten die Morgendämmerung herauf, es sah aus, als schimmere grauer Samt im Kerzenlicht.
Sie stand zitternd neben dem umgedrehten Ruderboot. Wie lange war es her, dass sie zur Anlegestelle zurückgekehrt war?
Ohne Worte hatte die Quelle Stunde um Stunde ihre Seele geläutert – ein Wort, das sie nicht mochte, aber es war ihr spontan in den Sinn gekommen –, hatte sie reingewaschen, längst verdrängte Gedanken und Erinnerungen freigespült, sich mit ihr vertraut gemacht. In der realen, menschlichen Zeit. Wo immer diese Quelle hinströmte, war ihr Impuls reine Freude, wie Kaye erkannt hatte.
Der Rufer sah auf sein Geschöpf und siehe, es war gut.
»Wird Stella wieder gesund?«, fragte Kaye im schützenden Halbdunkel der Bäume. Ihre Stimme klang so zart wie die eines Kindes. »Werden wir alle wieder gesund und munter zusammenleben?«
Auf diese gezielten Fragen erhielt sie keine Antwort. Der Rufer vermittelte kein spezifisches Wissen, aber fragen durfte man.
Einen solchen Augenblick, eine solche Begegnung hatte sie sich nicht einmal im Traum vorgestellt. Höchstens als Mädchen hatte sie sich einmal gefragt, wie eine solche spirituelle Erfahrung aussehen mochte. Und stets hatte sie sich vorgestellt, es sei eine Sache von Schuld und Sühne, eine Abrechnung mit Blitz und Donnerhall. Ein Augenblick hilfloser Selbsttäuschung, als Rechtfertigung für Jahre der Ignoranz und Ungläubigkeit. Nie hätte sie mit etwas so Unspektakulärem gerechnet. Und ganz bestimmt nicht mit diesem heftigen, aber fröhlichen Aufwallen freundschaftlicher Gefühle.
Kein Urteil. Keine Strafe.
Aber auch keine Antworten.
Ich habe nicht darum gebeten. Die Gebete hat ganz allein mein Körper in seiner Verzweiflung
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