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Die Darwin-Kinder

Die Darwin-Kinder

Titel: Die Darwin-Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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und Nacken. Ihre Muskeln waren stark verspannt, nicht zuletzt deswegen, weil sie neben Stella auf dem Holzfußboden geschlafen hatte. Sie hatte das Gefühl, ihre Nebenhöhlen seien verstopft, so als habe sie geweint. Es war ein seltsames, nicht unangenehmes Gefühl
    – die
    Nebenwirkung einer tief vergrabenen Empfindung.
    Sie musste nach draußen, Luft schnappen. Noch einmal sah sie wie aus einem Zwang heraus nach Stella. Sie kniete sich nieder, um die Stirn ihrer Tochter zu berühren und ihr den Puls zu fühlen, dann ging sie um die Couch herum und durch die Verandatür hinaus. Sie stieg die Stufen hinunter und folgte dem Pfad, der mitten durch hohes Gras zur Bootsanlegestelle führte.
    Die Anlegestelle war etwa neun Meter lang und drei Meter breit – lächerlich groß für diesen kleinen See. Auf den Holzplanken lag ein einzelnes umgedrehtes Ruderboot. Aus einem Stapel von halb verrotteten Schwimmwesten ragten Grashalme hervor, die im Mondlicht schimmerten.

    Kaye blieb am Ende der Anlegestelle stehen, kreuzte die Arme über der Brust und nahm die Nacht in sich auf. Grillen meldeten mit ihrem Zirpen die kommenden
    Tagestemperaturen; zwischen den Schilfhalmen im flachen Gewässer quakten Frösche mit einer Würde, die ebenso erotisch wie fremdartig wirkte. Stechmücken summten wild entschlossen ihre Liedchen.
    »Weiß jemand von euch, was es heißt, traurig zu sein?«, fragte Kaye den See und seine Bewohner mit einem Blick zurück aufs Haus. »Seid ihr auch traurig, wenn eure Kinder krank sind?« Die einsame Lampe im Wohnzimmer warf ihr goldenes Licht durch die Verandafenster.
    Sie schloss die Augen. Etwas Großes, das einen Kreis schloss… etwas Gewaltiges zog vorüber, fegte über den See, den Wald… und berührte rings um sie herum alles, was lebte.
    Die Frösche verstummten.
    Berührte sie selbst.
    Kaye fuhr zusammen, als sei jemand durch eine dünne Holzwand gekracht. Ihre Schultern hoben sich, die Finger spannten sich. »Hallo?«, flüsterte sie.
    Irgendwelche Nachbarn waren mindestens anderthalb Kilometer entfernt, jenseits der großen Bäume, an der Straße.
    Sie sah nichts, hörte nichts.
    »Meine Güte«, sagte sie laut und kam sich sofort wie ein Idiot vor. Sie überlegte, woher diese andere Stimme gekommen sein mochte – obwohl ja niemand gesprochen hatte
    –, suchte den See danach ab und blickte zum Schilf im Flachwasser hinüber. Dort war nichts. Stille senkte sich über den See, es war nicht einmal mehr ein Luftzug zu spüren. Alles schwieg, Kaye konnte nur noch ihr eigenes Herz schlagen hören.
    Irgendetwas hatte sie berührt, nicht ihre Haut, sondern tiefere Schichten. Anfangs war da nur die Empfindung gewesen, dass sie nicht allein war. Auf diesen Holzplanken, auf denen sie einsam und mit bloßen Füßen saß, teilte sie sich jetzt den Raum mit einem Wesen, das genauso real war wie sie selbst –
    mit einem Wesen, das ihr willkommen und seltsam vertraut war, wie ein geliebter Freund.
    Sie spürte, wie Jahre der Last von ihr abglitten. Einen Moment lang tauchte sie in die Empfindung unendlicher Gnade ein.
    Hier fällt niemand ein Urteil über dich. Hier bestraft dich niemand.
    Kaye zitterte und befeuchtete die Lippen mit ihrer Zunge. Es kam ihr so vor, als tropfe silbernes Wasser durch ihren Kopf.
    Das Tröpfeln wurde stärker, wurde zu einem Rinnsal, dann zu einem Bach, der ihr vom Nacken bis in die Brust drang. Das Wasser war elektrisierend kühl und rein, wirkte so, als spüle man die drückende Schwüle eines Sommertages in einer unterirdischen Quelle von sich ab. Aber diese Quelle sprach zu
    ihr, wenn auch ohne Worte. Und sie verbreitete einen eigenartigen Wohlgeruch, als wolle eine Blume sie ganz umschließen.
    Die Quelle war voller Leben. Kaye wurde das Gefühl nicht los, dass sie seit jeher von dieser Quelle gewusst hatte. Es kam ihr so vor, als fügten sich einzelne Moleküle endlich zu einem großen Ganzen zusammen – obwohl es das auch nicht ganz traf. Diese Quelle war nichts Biologisches. Etwas aus einer anderen Welt.
    Kaye griff sich an die Stirn. »Ist das ein Schlaganfall?«, flüsterte sie und tastete sich über den Mund. Ihre Lippen waren zu einem Lächeln verzogen. Als sie es merkte, ließ sie die Mundwinkel sinken. »Ich darf nicht zusammenklappen, nicht in dieser Situation. – Wer ist da?«, fragte sie wieder und wieder, als müsse sie zwanghaft ein Ritual vollziehen.
    Sie kannte die Antwort.

    Der Besucher, derjenige, der sie rief, hatte keine spezifischen Züge, besaß

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