Die Datenfresser
Degradierung des Menschen zu »Human Resources« im Arbeitsprozeß beschleunigte, wurde durch die durchgehende digitale Erfassung von Geschäftsprozessen zur unausweichlichen Norm. Am unteren Ende der Einkommensskala, bei Zeitarbeitern, Franchise-Unternehmen, Logistikdienstleistern und im Dienstleistungssektor ist der einzelne Mitarbeiter nur noch dann von Bedeutung, wenn er die Normen erfüllt, die für die Profitabilität des Gesamtsystems notwendig sind. Die Menschen und ihre Leistungsfähigkeit werden zu einem bloßen weiteren Parameter-Set im Optimierungsalgorithmus.
Dabei geht es häufig nicht mehr um das, was im Rahmen eines menschenwürdigen Arbeitstages realistisch abgearbeitet werden kann. Ein typisches Beispiel sind etwa die Auslieferungsfahrer eines großen deutschen Paket-Logistikunternehmens. Sie wurden vor einigen Jahren dazu gedrängt, als selbständige Subunternehmer die Auslieferung an die Empfänger zu übernehmen. Die entscheidenden Parameter für das Drücken der Kosten sind hier die Größe des Auslieferungsgebietes und die Anzahl der auszuliefernden Pakete pro Tag. Per algorithmischer Optimierung werden seitens des Unternehmens die Größen der Zustellgebiete an die saisonalen Schwankungen der Paketmengen, den Verkehr und die erfahrungsgemäß für die Zustellung eines Paketes benötigte Zeit angepaßt. Das Unternehmen wollte den Gewinn in seiner Paketsparte steigern, um für den anstehenden Börsengang ein gutes Bild abzugeben. Der entscheidende Optimierungsschritt war die Umstellung von festangestellten Fahrern auf Subunternehmer.
Der ausliefernde Fahrer verdient nach dem neuen System pauschal pro zugestellter Lieferung. Damit er auf einen halbwegs akzeptablen Tageslohn kommt, muß er zwangsläufig zusehen, wie er trickst und Zeit spart. Typischerweise versucht er deshalb erst gar nicht, jedes Paket beim Empfänger persönlich abzugeben, wenn im gleichen Haus noch ein zweites Paket auszuliefern oder ein Laden im Erdgeschoß ist, der bereit wäre, die Lieferung anzunehmen. Dadurch spart er die Zeit fürs möglicherweise vergebliche Treppensteigen, Klingeln und Unterschrift einholen, da er zwei oder drei Pakete in einem Arbeitsvorgang los wird.
Besonders kritisch sind Expreßlieferungen, die bis zu einer bestimmten Uhrzeit ausgeliefert sein müssen. Weil dem Fahrer eine Vertragsstrafe droht, sollte ein solches Paket zu spät zugestellt werden, gibt er typischerweise kurz vor Ablauf der Zustellungsfrist für die verbleibenden Expreßlieferungen auf seiner Tour »Empfänger nicht angetroffen« ins System ein und verteilt später die entsprechenden Postkarten in die Briefkästen, wenn ihn seine Tour sowieso in der entsprechenden Straße vorbeiführt. Gegen Ende der Touren, wenn die Zeit bis zum Feierabend – an dem viele Fahrer einem Zweitjob nachgehen – nicht mehr reicht, werden dann für alle noch im Auto verbleibenden Lieferungen nur noch »Bitte abholen«-Postkarten verteilt.
Das Auslieferfahrer-Beispiel ist typisch für die Macht der Algorithmen über den Alltag. Mehr und mehr werden auf der Basis der Daten, die durch die durchdigitalisierten Geschäftsprozesse anfallen, Modelle erstellt, aus denen Normwerte für eine Arbeitshandlung abgeleitet werden. Dieser Normwert, der zwangsläufig Rahmenbedingungen ignoriert, die sich (noch) nicht digital erfassen lassen, wird dann zum Maßstab für die Arbeitenden. Die Lohnkosten für die Arbeitshandlung werden zum Optimierungsobjekt, sie werden im Zuge von echten oder fiktiven Krisen gedrückt, neuverhandelt oder durch Umstellung auf scheinbare Selbständigkeit externalisiert. Das algorithmische Modell bildet die Grundlage, auf der die Geschäftsplanung basiert. Mit der Realität hat die Modell-Abbildung nur insoweit zu tun, wie die zugrundeliegenden Daten präzise, aktuell, vollständig und alle Aspekte umfassend sind – was praktisch oftmals unmöglich ist.
Der »Business Plan«, eine Modellrechnung über zukünftige Kosten, Umsatzentwicklung und die daraus resultierenden Zielvorgaben für die einzelnen Mitarbeiter, ist zum Fetisch der modernen Unternehmenswelt geworden. Erfüllung der Planziele wird belohnt. Übererfüllung ist dagegen nur ein deutlicher Hinweis auf vorhandenes Optimierungspotential, das es im nächsten Planzyklus auszureizen gilt. Im Kern ist auch der Kapitalismus eine planende Wirtschaft geworden – die Pläne sind nur kleinteilig und konkurrieren miteinander. Das alte, fehlgeschlagene Ideal der kybernetischen
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