Die Datenfresser
großen Informationsmengen zu erzeugen und die Fehler durch Einbeziehung der Reaktionen des Menschen auf die Ergebnisse fortwährend zu reduzieren. Man kann es sich als automatisches Erfahrungslernen vorstellen, gespeist aus Zusammenhängen und Gemeinsamkeiten von Informationen. Zunächst ging es um die Auswertung von Texten. Gefüttert werden diese Algorithmen heute aber mit den nunmehr reichlich vorhandenen Datenschätzen, die wir in unserem digitalisierten Leben erzeugen. Egal ob Einkäufe, Blog-Postings, Bewegungsdaten, Kreditaufnahme oder Arbeitstätigkeit – praktisch alles hinterlässt digitale Spuren, die von derzeit meist noch separaten Systemen gespeichert und analysiert werden können. Es werden neue Erkenntnisse gewonnen und Informationen eingeordnet, die zuvor entweder zuviel Rechenleistung erforderten oder für die es bisher schlicht keine ausreichende Datenbasis gab.
Scoringwerte: Der digitale Schatten
Ein beliebter Weg, die Ergebnisse dieser Berechnungen zusammenzufassen, sind Klassifikationen und die sogenannten Scoringwerte. Scoring bedeutet im Wortsinn den Prozeß des Zählens und des Einstufens von Zahlenwerten. Praktisch beantwortet ein Scoringverfahren folgende Fragen: In welche soziale Kohorte fallen Sie eigentlich? Gehören Sie zur Menge der weiblichen Studentenschaft der ökonomischen Fächer in norddeutschen Großstädten? Sind Sie den männlichen, ungebundenen Wanderarbeitern zwischen 45 und 55 Jahren, die zur Miete wohnen, zugehörig? Oder etwa den sozial schwachen Witwen mit Haustier in einer Kleinstadt in Süddeutschland? Welcher der Gruppen auch immer Sie angehören, es wird in Ihrem Profil vermerkt und beim Scoring berücksichtigt. Welchen Preis Ihr Datensatz beim An- und Verkauf hat, wird sich ebenfalls daran festmachen. Doch nicht nur das: Auch der Rückblick auf ihre Käufe, Interessen und Urlaubsreisen wird eingerechnet. Anders wäre ein aussagekräftiges prognostisches Profiling kaum möglich. Und das ist noch wertvoller als Ihre aktuellen Datensätze. Ein Abbild der Persönlichkeit eines Menschen mit einer Vielzahl von Parametern wird einfach mathematisch berechnet. Es entsteht ein digitaler Schatten, dem viel Bedeutung zugemessen wird. Egal ob es um Kreditwürdigkeit oder den begehrten Mietvertrag geht – die Scoringanbieter behaupten, ihre Schulnote über das Leben eines Menschen gäbe verlässliche Aussagen über seinen Wert. Implizit erfolgt damit eine Disziplinierung zu ökonomischem Wohlverhalten. Die unausgesprochene Botschaft ist: »Sei lieber brav, hol dir einen Bausparvertrag und wohn’ nicht in der falschen Gegend, sonst war’s das mit dem Traum vom Aufstieg in die Mittelschicht …«
Die Berechnung von Scoringwerten ist keineswegs auf den Bereich der Wirtschaft begrenzt. Dem computeraffinen Kriminalisten kommt sogleich auch der offenbar unsterbliche Gedanke der »Rasterfahndung« in den Sinn. Denn auch im Bereich der Strafverfolgung ist der Traum nach der Durchforstung großer Datenmengen nach gezielten Kriterien nicht ungeträumt geblieben. Mit der Verbreitung der kommerziellen Datenverarbeitung und damit einhergehenden Rationalisierung konkretisierte sich dieser Wunsch. Der damalige Präsident des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, der von 1971 bis 1981 Chef der Behörde war und dort bereits im Januar 1972 die Abteilung »Datenverarbeitung« bildete, führte in einem Interview mit dem Juristen Sebastian Cobler im Sommer 1980 aus: »Ich sehe die Hauptaufgabe des Bundeskriminalamtes darin, das in riesigen Mengen angehäufte Tatsachenmaterial zu allen abseitigen, abweichenden Verhaltensweisen in der Gesellschaft forschend zu durchdringen, um rationale Einsichten der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen, ihr eigenes Rechtssystem zu korrigieren und Instrumente bereitzustellen, die Kriminalität verhindern.« Seine Worte sind gleichsam die Übersetzung der Optimierungsalgorithmen der Wirtschaft in die Strafverfolgung.
Horst Herolds Vision der staatlichen Digitalbegleitung wurde nur teilweise Wirklichkeit – bisher. Die Software und die Algorithmen waren zu seiner Zeit nicht ausreichend entwickelt, die Prozessoren nicht schnell genug, die Speicher zu klein. Zusätzlich war die digitale Datenbasis knapp und die Ergebnisse unzureichend, der Widerstand gegen die Menschenrasterung jedoch groß.
Die technischen Umstände und gesellschaftlichen Realitäten haben sich seitdem grundlegend gewandelt, in der Wirtschaft wie bei der polizeilichen Fahndung. Heute sind
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