Die Datenfresser
Erwachsenenalter anders gesehen werden.
Die andere Seite des Vertrauens ist das Wissen um eigene Unzulänglichkeiten. »Etwas Negatives oder Verdächtiges kann bei jedem lebenden Menschen vermerkt werden. Jeder ist an etwas schuld und hat etwas zu verbergen«, wie Alexander Solschenizyn in »Krebsstation« schreibt. Die Erkenntnis, daß jeder kleine Regelverstöße tagtäglich vollzieht, kommt also hinzu. Wir alle verhalten uns nicht fortwährend moralisch richtig oder auch nur korrekt im Sinne der Gesetze, deren laxe Interpretation manchmal gar aus Gründen der Menschlichkeit oder Ethik geboten sein kann. Nur wenige Leben sind derart langweilig, daß es gar nichts zu verheimlichen oder verstecken gäbe – natürlich hat also jeder etwas zu verbergen, und seien es nur Handlungen oder Ansichten, die von jemand ganz Speziellem mißverstanden werden könnten.
Souveränität über die eigenen Daten bedeutet daher, Handlungsspielräume zu erhalten, nicht heute für alle Zukunft zu entscheiden, was wer wissen soll. Welches Image, welche Assoziation, welcher Lebensstil, welche politische und kommerzielle Einordnung für die eigene Person stehen, soll jeder selbst und immer wieder neu entscheiden können.
Doch auch wenn – sowohl bei der staatlichen als auch der kommerziellen Datenverwertung und -einsichtnahme – die Grenze des Erlaubten und die schummrige Grauzone des Halblegalen mit jedem Jahr weiter ausgedehnt werden, sind diejenigen, die leichtsinnigerweise glauben, nichts zu verbergen zu haben, weiterhin zahlreich in unserer Gesellschaft vertreten.
Furcht und Unterstellung
Was ist also der eigentliche Subtext des Spruches »Ich habe nichts zu verbergen«? Welche Mitteilung an den Gesprächspartner wird darin transportiert? Die Privatheit ist durch nichts bedroht, wird implizit kolportiert. Wollte jemand die Kontobewegungen einsehen? Kein Problem – nichts zu verbergen! Doch es ist in Wirklichkeit eine Entsolidarisierung, denn gleichzeitig meint der Sprecher damit, daß auch die anderen gefälligst nichts zu verbergen haben sollten, wollten sie nicht weniger rechtschaffen als er sein. Denn die Vorstellung ist natürlich, daß die Konten der anderen durchsucht werden, nicht das eigene. Damit wird aber zugleich die Unschuldsvermutung in ihr Gegenteil verdreht: Du mußt schon beweisen, daß du nichts Böses im Schilde führst.
Wie schnell diese Einstellung populär werden kann, zeigt das Beispiel Großbritannien: 1994 war dort ein Kriminalfall wochenlang Thema in den Medien: Ein kleines Kind, Jamie Bulger, war von zwei zehnjährigen Schülern entführt und ermordet worden. Den Beginn der Entführung hatten Überwachungskameras gefilmt. Die Qualität der Aufnahmen genügte allerdings nicht für die Identifizierung der Schüler, und selbstverständlich hatte die Kamera das Verbrechen nicht verhindern können. Die Schüler wurden letztlich aufgespürt, weil sie gegenüber Freunden später selbst über ihre Tat sprachen. Dennoch wurde der Videofilm Hunderte Male im britischen Fernsehen gezeigt.
Der Jamie-Bulger-Fall veränderte die Überwachungspolitik der Briten hinsichtlich der Überwachungskameras grundlegend. Ohne die wochenlange Diskussion um die Tat wäre vermutlich das Vereinigte Königreich nie zu einer Gesellschaft voller Überwachungskameras geworden, die weltweit als Prototyp für ein aus den Fugen geratenes Verhältnis zwischen präventiver Kontrolle und Freiheitsrechten gilt. Denn der damalige konservative Regierungschef John Major nutzte die öffentliche Debatte dazu, fast das gesamte finanzielle Budget zur Verbrechensverhinderung in technische Anlagen zur Videoüberwachung zu stecken. Eine Fehlallokation von Mitteln, die mehrere Millionen Kameras und die dazugehörigen Warnschilder in allen Teilen des Landes verteilte und bis heute ihresgleichen in Europa sucht.
Für die begleitende politische Kampagne wurde von einer Werbeagentur der Slogan »If you’ve got nothing to hide, you’ve got nothig to fear« landesweit plakatiert. Die überall angebrachten Kameras sollten als freundliche Augen beworben werden, die nur nach dem Rechten schauen und niemanden ängstigen sollen. Nicht das Fangen von Verbrechern stand im Vordergrund, sondern das Verbreiten des Gefühls, beobachtet zu sein. Es ging nicht um die Sicherheit. Es ging um die Änderung des gesellschaftlichen Klimas.
Gegen wen oder was die Privatsphäre zu schützen sei, bleibt schwer erfahrbar. Zu viele Überwachungsbefugnisse in einem Staat,
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