Die Datenfresser
Individualität nur ein statistisch mehr oder weniger häufiges Bündel von Merkmalen und Eigenschaften, das sich in Handlungen und Äußerungen materialisiert. Je mehr Daten es über uns alle gibt, desto klarer wird der digitale Schattenriß des einzelnen. Moderne Algorithmen funktionieren um so besser, je mehr Basisdaten sie bekommen. Wenn mehr Exemplare eines spezifischen Verhaltensmusters im Datenbestand sind, dann läßt es sich genauer charakterisieren und quantifizieren.
Je spezieller die Frage – zum Beispiel, ob jemand mit seiner Arbeitssituation unzufrieden ist und bald kündigen wird –, desto präziser lassen sich die dazugehörigen Datenpunkte benennen. Potentielle Jobsuchende benutzen spezifische Wörter, besuchen bestimmte Webseiten, kaufen Ratgeberbücher, sind öfter krank. Die Muster sind nicht scharf umrissen, es sind eher statistische Häufungen. Aus den Daten über Zehntausende Unzufriedene läßt sich problemlos ein Orakel-Algorithmus erstellen, der für eine Person die individuelle Kündigungswahrscheinlichkeit berechnet. Google macht das bereits für seine Mitarbeiter.
Wir werden abgebildet als eine Kombination von kleinen Merkmalschubladen, die zusammengenommen etwa soviel mit unserem wirklichen Wesen zu tun haben wie eine Landkarte mit der Landschaft. Diese Persönlichkeitslandkarten sind mal schärfer, mal unschärfer, mal zeigen sie nur grobe Umrisse von Interessen, Meinungen und Begehren, oft jedoch sind sie erschreckend präzise und genau. Wie eine Landkarte können sie aber immer nur quantifizierbare, benennbare Eigenschaften aufzeigen. Hier gibt es eine Straße, einen Fluß, ein Dorf. Daß es dort wunderschön ist, zeigt die Landkarte nicht. Genausowenig wird hinter dem schubladisierten Persönlichkeitsabbild das verborgene einzigartige Menschenwesen sichtbar.
Die Profile sind nützlich, um uns gezielt zum Kauf von mehr nutzlosem Tand oder interessanteren Büchern zu verleiten, uns effizienter zu verwalten und dazu, zukünftiges Verhalten zu prognostizieren. Kommt die Ortsinformation hinzu, kann der Mensch direkt beeinflußt werden, wenn er sich unmittelbar vor der Kaufentscheidung befindet.
Auf dem Weg zum »Pre-Crime«
Natürlich eignet sich ein Profil auch, um Menschen, deren daraus errechnete Eigenschaften sich bedenklich denen von Straftätern nähern, unter präventive Überwachung zu stellen. Dabei geht es keineswegs um hundertprozentige Präzision der Vorhersage. Wahrscheinlichkeiten, Neigungen, Tendenzen, Zugehörigkeit zu Kohorten sind die Währungen der algorithmischen Orakel. Wenn ein Kaufvorschlag nicht paßt, ignoriert ihn der Kunde eben. Wenn das Sondereinsatzkommando morgens um sechs die falsche Tür eintritt, entschuldigt sich der Polizeipräsident vielleicht halbherzig und schickt einen Blumenstrauß zum Trost. Manchmal nicht mal das.
Die softwaregestützte Durchregelung des Alltagslebens, das Schwinden menschlichen Ermessensspielraumes zugunsten algorithmisch generierter Handlungsanweisungen findet sich überall. Die Sachbearbeiter in Unternehmen oder Amt führen oft nur noch aus, was ihnen »die Software« vorgibt. Sich gegen die Vorgabe aus dem Computer zu entscheiden ist aufwendig und anstrengend, dann muß begründet und gerechtfertigt werden. Der Kundenkontakt von Unternehmen wird nach dem gleichen Muster erledigt: Callcenter-Mitarbeiter folgen einem vorgegebenen Skript auf dem Bildschirm. Je nach Anliegen und Reaktion des Kunden wird einer anderen Verzweigung des Szenarios gefolgt. Es ist effizienter und gerechter so, oder? Sollte daher also jeder seine Daten möglichst vollständig abliefern, damit er besser verwaltet werden kann?
Mißbrauch von gewonnenen Daten – auch wenn die Größenordnung der Datenberge alles früher Vorstellbare übersteigt – ist jedoch für viele Menschen kein greifbares Phänomen, es bleibt eine abstrakte Gefahr. Da mag der einzelne vielleicht tatsächlich ein Mitgliedskonto bei einer großen Auktionsplattform im Netz haben, aber wenn er in den Nachrichten hört, Millionen Kundendaten seien abhanden gekommen, fühlt er sich nicht unbedingt betroffen. Selbst Opfer eines Datenverbrechens zu werden wird kaum als Risiko gesehen, schon gar nicht als reale Gefahr. Wenn man nicht gerade prominent ist und die eigenen Gesundheitsdaten meistbietend an die Boulevardpresse verhökert werden könnten, was soll da schon passieren?
Auch der graue Markt der Daten, über den in Deutschland im Zuge der Telekomaffäre immer mal wieder
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