Die Datenfresser
der heutzutage nicht bedrohlich wirkt, schrecken nicht jeden braven Bürger. Die eigene Religion oder die der Großmutter kann jeder auf dem T-Shirt tragen und in eine Bewerbung schreiben, ohne daß heute jemand Anstoß nimmt. Was sollte man als halbwegs reale Bedrohungskulisse für die Freiheits- und Bürgerrechte an die Wand malen, um potentielle Gefahren einer schwindenden Privatsphäre sichtbar zu machen? Daß in Zukunft hierzulande eine Grüne Bundeskanzlerin werden könnte?
Gerade weil es kein einfach zu verstehendes Konzept ist, das sich in simplen Schlagworten verkaufen läßt, ist es schwer zu verteidigen. Zudem erfahren nur wenige im Laufe ihres Lebens die dunkle Seite einer Staatsmacht, die doch in den Augen vieler nur die Kriminellen jagt. Darüber, was Kriminelle sind, besteht oft Einigkeit. Falsche Verdächtigungen, Machtmißbrauch, Korruption gelten hingegen als Ausnahmeerscheinungen, obwohl sie täglich hundertfach vorkommen und ein keinesfalls kleines Alltagsrisiko darstellen.
Es handelt sich dabei jedoch meist um komplexe, nicht besonders plakativ darzustellende Vorgänge, die selten Schlagzeilen machen. Dabei kann heutzutage bereits ein arabischer Nachname erhebliche Probleme bereiten, etwa bei Flugreisen und bei der Eröffnung eines Bankkontos. Nur Extremfälle von Datenmißbrauch erreichen eine größere Öffentlichkeit. So wurde etwa über die Entführung und Folter von Khaled el Masri 2004 und die Verhöre und die Internierung von Murat Kurnaz in Guantánamo berichtet, die beide zu Unrecht festgesetzt worden waren. Der Aspekt, daß ihre Verschleppung aufgrund unrichtiger Daten erfolgte, war jedoch nur selten Teil der Berichterstattung.
Der sparsame, sorgsame Umgang mit den eigenen Daten betrifft nicht nur einen selbst. Durch die vernetzte Natur der Informationen, durch ihre Verflechtung und Verwebung, geht es praktisch nie nur um einen selbst. Angefangen vom namentlichen Erfassen der Abgebildeten auf Fotos auf Online-Plattformen über das Location-Tagging bis hin zu leichtfertigen Facebook-Updates mit Inhalten, deren Tragweite für andere man nicht absehen kann: Der soziale Umgang mit Menschen, die keine Privatsphäre-Manieren haben oder gar offensiv Post-Privacy-Ideologien vertreten, kann im Ernstfall ähnlich riskant sein wie intimer Umgang mit habituellen Safe-Sex-Verweigerern.
Gern wird so getan, als wäre der Kern des Konzepts der Privatheit, böswilliges Handeln zu verstecken oder gar zu unterstützen. In Wirklichkeit bietet es Schutz vor der Macht anderer – sei es dem Staat oder dem Chef. Es schützt vor unangemessener Belästigung, aber auch vor der Asymmetrie von Machtverhältnissen. Gleichzeitig bewahrt es den gegenseitigen Respekt, die Individualität, letztlich die Menschenwürde.
8. Wohin die Reise geht
Drei Tage im Jahre 2021
Robert erwacht vom Glockenspiel, das aus dem Lautsprecher seines Telefons erklingt. »Guten Morgen, Robert«, sagt die vertraute Stimme aus dem Gerät. »Du wolltest um acht Uhr aufstehen. Heute ist Mittwoch, der 21. April 2021. Sonnenaufgang war heute um 5:16 Uhr. Das Wetter ist regnerisch und wolkig, mit Temperaturen um 15 Grad, zwischendurch gibt es auch mal Sonne. Dein erster Termin heute ist um 9.40 Uhr. Wenn du dich beeilst, könntest du mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren und trocken bleiben. Möchtest du einen Nachrichtenüberblick hören?«
Verschlafen blinzelt Robert auf den Bildschirm des Geräts. Googles intensiver Wettlauf mit Apple um die intelligenteste, freundlichste Software fürs Lebensmanagement hatte in den letzten zehn Jahren erstaunliche Fortschritte gemacht. Aber irgendwie hatte noch niemand einen Weg gefunden, die Biodaten zu berücksichtigen und zuverlässig festzustellen, ob der Benutzer morgens beim Aufwachen unausgeschlafen war oder hellwach, ausgeruht und aufnahmebereit. Egal, ein paar Nachrichten sind sicher das richtige, um das Hirn ein wenig auf Touren zu bringen und den Tag zu beginnen. »Ja«, hört er sich mit trockener Stimme krächzen.
Der Kneipenabend mit der alten Spiele-Gilde gestern war lustig, aber mittlerweile ist er doch langsam in einem Alter, wo das nicht mehr gänzlich folgenlos bleibt. Mit leichtem Kopfweh wankt Robert ins Badezimmer, dabei aktiviert er am Bildschirm im Flur sein Lokationsprofil. Sollen seine Freunde von der Gilde ruhig staunen, daß er als vermutlich erster wach ist.
Während er sich die Zähne putzt, hört er sich die Neuigkeiten an. Der Nachrichtenüberblick wird ihm
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