Die Delegation
›überzufällig‹ war. Ein hoher CR-Wert bewies das schwarz auf weiß.
Aber vielleicht waren amerikanische Streifenwagenbesatzungen auch einfach zu unsensibel?
Da sah ich etwas, das war kaum zu glauben: Im Fenster, an markanter Stelle zwischen all diesen todbringenden Waffen der letzten hundert Jahre, lag – eine Steinschleuder. So etwas hatten wir uns in der Schule aus Astgabeln und Autoschlauchgummi selber gebaut. Ein nicht ungefährliches Kinderspielzeug, ein Relikt aus biblischen Tagen: David und Goliath.
Hierzulande wurde so etwas industriell gefertigt. Von wem – und zu welchem Zweck?
Guerillatruppen ausgerüstet mit Steinen und Schleudern?
Wir hockten in den dichten Zweigen alter Kastanien und beschossen uns über die Köpfe der aufsichtführenden Lehrer hinweg. Flopp – klatschte es durch die Blätter – flopp. Es war schwierig, auszuweichen – flopp.
Das Gekreisch von Mädchen drang herauf. Die turnten unten am Reck. Kniekehlen waren aufgereiht auf dem runden Eisen, Köpfe und Röcke hingen nach unten. Sklavinnen. Eine werde ich befreien, werde mit ihr fliehen, über Äste und Zweige und Dächer hinweg. Ich werde mein Leben opfern für ihre Freiheit, sie ist meine Gefangene, meine Beute, sie muß tun, was ich will. Sie turnte nicht mit, sie lehnte sich an einen der grauen Eichenpfosten, ein altersschwaches Fußballtor, sie war jung, dreizehn, also schon eine Frau, sehr groß mit langen, dunklen Haaren und langen Beinen. Sie war die Tochter des Häuptlings. Und da sie meine Liebe nicht erwiderte, hatte ich das Recht, sie zu töten!
Flopp – der Stein schlug gegen den Pfosten – sie drehte sich um: »Der Wagen ist fort!«
38
Tatsächlich – der Streifenwagen war verschwunden! Vielleicht schon seit einer ganzen Weile, und wir hatten es nicht bemerkt.
»Jetzt könnten wir eigentlich weitergehen …« Julie lachte wieder.
»Ja, natürlich – ach so, Verzeihung!« Ich hatte vergessen, sie loszulassen.
Wir überquerten Scotts Circle und schwiegen. Die verspielte Stimmung begann zu verfliegen. Die Spannung zwischen uns war neutralisiert, eine Art Entladung hatte stattgefunden. Julie war wieder der fabelhafte Kumpel, die intelligente, kesse Forscherin.
»Glückwunsch, Julie, dein telepathischer Befehl hat funktioniert!«
Sie sah mich verwundert an.
»Aber nein, ich war es nicht! Das war doch nur Spaß. Spaß – und Zufall. Die sind von sich aus weggefahren. Ich konnte mich nicht richtig konzentrieren. Mir fielen immer nur so dumme Dinge ein …« Dumme Dinge? »Was denn – zum Beispiel?«
»Nicht wichtig. Dumm und traurig … Ich hab’ es vergessen.« Sie hatte es nicht vergessen. Natürlich nicht. Ich dachte, wenn ich sie sehr erwartungsvoll ansehe …
»Mein Vater, weißt du, der war Offizier in französische Armee. Und wir waren in Algérie, Algerien, ja. In Sidi-bel-Abbes, das liegt bei Oran, die ganze Familie. Mama, mein Bruder und ich. Es war zu Beginn des Krieges, es war noch gar kein richtiger Krieg, nur eben Unruhe, Sabotage. Später gingen wir ja zurück nach Cherbourg – ohne Papa. Ja, also, ich war noch klein, ging in die Schule. Und Papa brachte mich hin, in Uniform. Ich ging über den Hof, und ich drehte mich noch um, als er wegfuhr, und habe gewinkt.
Und da wurde geschossen. Nicht auf ihn – auf mich. Auf das kleine französische Mädchen im Schulhof, auf die Tochter vom Hauptmann mit der Uniform.
Und der geschossen hat und nicht traf, den hat man erwischt. Er saß auf einem Baum, man hat ihn heruntergeholt, und es war ein Junge, ein kleiner algerischer Junge, zehn oder zwölf Jahre alt, sehr hübsch, mit großen erschreckten Augen. Er hatte eine Pistole und fünf Schuß Munition. Und damit wollte er ganz Frankreich vernichten, alle Franzosen verjagen aus seinem Land. So wie David und Goliath, weißt du. Das ist mir eingefallen vorhin. Das war alles. Und ich verstehe nicht, wieso, woher kommt diese Erinnerung – gerade jetzt?« Die Tochter des Häuptlings – dachte an David und Goliath …! Hatte sie die Waffen, etwa gar die Steinschleuder in dem vergitterten Fenster gesehen? Bestimmt nicht, die lagen ja hinter ihr. Die Geschichte war merkwürdig. So sprachen wir wieder über Telepathie.
Julie glaubte an tausenderlei seltsame Dinge und Phänomene, aber sie glaubte an keine außerirdische Delegation. Die Fotos hatten sie nicht überzeugt, auch nicht die Tonbänder, nicht die Protokolle.
Und es war eigentlich nicht mein Job, ihr Roczinskis Hypothese
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