Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Mutter in seinem Bericht nicht die Rolle der Bösen zuzuteilen, so wurde doch deutlich, dass diese damals extrem brutal reagiert hatte. Verständlich irgendwie: Von einem auf den anderen Tag, ohne Vorwarnungen, wurde sie von ihrem Mann verlassen. Und er wollte ihr nicht einmal eine Erklärung für seine Flucht geben. Erst als sie drängte, schrie, bettelte, gestand er ihr schließlich, dass er Männer liebte. Und dass er es nicht mehr ertragen konnte, sich vor den Menschen, die ihm am nächsten standen, vor seiner eigenen Familie verstellen zu müssen. Es war für Svens Mutter wohl schlimmer, als hätte er eine Geliebte gehabt. Er hatte ihr in gewisser Weise ihr Leben genommen: Nichts, woran sie glaubte, stimmte nun noch. Ihre Familie war in ihren Augen binnen einer Minute zu einer Illusion geworden, das Bild, dass sie sich von sich selbst als Frau gemacht hatte, zerfiel. Es war, als wäre ihre Welt implodiert.
Also zwang sie Franz, ganz zu gehen. Er sollte nicht nur in ein anderes Viertel ziehen, wie er vorgehabt hatte, und auf gar keinen Fall sollte es ihm möglich sein, seinen Sohn noch zu sehen, worum er sie mehrfach anflehte. Nein, er sollte Hamburg verlassen! Sie verbat ihm, jemals seinen Sohn wieder zu sehen, schwor ihm, ihm das Leben zur Hölle zu machen, sein Geheimnis auszuposaunen, ihn der perversesten Dinge zu beschuldigen, wenn er sich weigerte. Nur wenn er für immer verschwände, wäre er sicher vor ihrem Hass.
»Hast du dich nie gefragt, ob sie das nur im ersten Moment gesagt hatte?«, fragte Sven. »Unter Schock?« Doch insgeheim dachte er an die schreckliche Szene, die seine Mutter ihm gemacht hatte, als sie seine Neigung entdeckte.
»Natürlich hätte ich. Aber so einfach ist das nicht, wenn man in so eine Situation gerät. Ich war völlig zerstört«, seufzte Franz. »Ich bin kein starker Mensch. Ich bin nicht wie du!«
»Ich bin nicht stark«, behauptete Sven.
»Doch, das bist du«, behauptete Franz. »Du zeigst dich, wie du bist. Ich tue das immer noch nicht. Ich lebe jetzt in Holland. Vielleicht das liberalste Land der Welt. Und trotzdem weiß kaum jemand, dass ich … schwul bin. Ich bin Junggeselle . Basta.«
»Und Sie konnten nicht mal für Ihren Sohn kämpfen?«, fragte Knut.
»Ich war zu sehr damit beschäftigt, ums Überleben zu kämpfen«, flüsterte Franz. Und dann schob er zögernd seine Ärmel hoch. Auf seinen Handgelenken zeichneten sich dicke Narben ab. »Zwei Selbstmordversuche, ein Jahr stationäre Psychiatrie, jahrelange ambulante Therapie.« Franz’ Stimme wurde wieder brüchig. »Ihr wisst das gar nicht mehr«, flüsterte er, »aber damals war Homosexualität strafbar . Es gab ein Gesetz, den Paragrafen 175. Ich hätte ins Gefängnis gehen können, nur wegen meiner Neigung. Da fragt man sich doch, zumindest innerlich, ob man vielleicht wirklich kriminell ist. Ein schlechter Mensch. Und was meint ihr, was passiert wäre, wenn Amelie mich tatsächlich beschuldigt hätte, dass ich mich an Sven vergangen hätte …«
»Und jetzt?«, fragte Sven.
»Als ich hörte, dass du auch … schwul bist. Und dass du dich nicht versteckst, so wie ich … da war ich so unsagbar stolz! Ich musste dich einfach sehen! Ich musste dir sagen, dass ich dich nicht vergessen, sondern immer an dich gedacht habe, dass ich um dich geweint habe. Und … und dass ich dich liebe!«
Sven schluckte.
»Und wenn du es willst, verschwinde ich wieder und werde dich nie mehr behelligen!«, sagte Franz.
Doch Sven, dem die Tränen jetzt ungehemmt aus den Augen schossen, stand auf und umarmte seinen Vater, der sich sofort an seinen Sohn klammerte wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz.
Knut schlich leise aus dem Raum.
* * *
Wahrscheinlich hatte sich ein iranischer Kampfjet verirrt! Seit Wochen bombardierten die Soldaten des Ayatollah Khomeni die Städte des Irak, obwohl die mit Saddam Hussein verbündeten USA mit massiven Vergeltungsschlägen drohten. Einer der Ayatollah-Piloten hatte offenbar seine Orientierung verloren, vielleicht wollte er auch direkt bis ins gottlose Amerika fliegen und hatte plötzlich keinen Sprit mehr – auf jeden Fall hatte es ihn bis nach Hamburg verschlagen, wo er dann seine Bombe kurz entschlossen direkt in Dilles Wohnung fallen ließ. Ja, das war die einzig denkbare Erklärung für das Chaos, das Susann und mich erwartete, als wir Dilberts Zuhause betraten: Nur ein Sprengsatz konnte eine Wohnung so verwüsten!
Der Fußboden des Flurs lag knöchelhoch voller
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