Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)
Bestseller Das Parfum , den seltsamerweise vom Supermarktkassierer bis zur Hochschulprofessorin jeder, wirklich jeder liebte. Ich auch.
Auf der anderen Seite des Raumes dominierte ein großer, alter Schreibtisch aus massiver Eiche das Bild. Auf der Arbeitsfläche türmten sich Zettel: Fragebogenmatrizen, die mit ungelenker Handschrift ausgefüllt waren – Klassenarbeiten offenbar, die Susann zu korrigieren hatte. Ich warf einen flüchtigen Blick auf das oberste Blatt: Le chiens allez aux la routte de la Paris hatte ein Kind, dessen Begabung wohl eher im naturwissenschaftlichen Bereich lag, darauf gekritzelt. Unten sah ich die Note: eine Fünf. Ob es Susann schwer fiel, streng zu sein? Eine Frage, auf die ich mir keine Antwort anmaßte.
Während ich gerade überlegte, wie der französische Satz mit den zielstrebig gen Paris marschierenden Hunden eigentlich richtig lauten müsste, stupste mich Susann von hinten an. »Kleine Programmänderung«, sagte sie. »Wir fahren zu Dilbert!«
»Irgendetwas passiert?«, fragte ich, mich an ihre sorgenvollen, einsilbigen Zwischenrufe am Telefon erinnernd.
»Kann man so sagen!«, lachte Susann.
* * *
Als Knut erwachte, traute er seinen Ohren kaum: Sven und sein Vater redeten immer noch! Sie saßen in der Küche und sprachen seit … Knut sah auf den Wecker … seit sieben Stunden! Knut räkelte sich. Andererseits: Was waren schon sieben Stunden, wenn man zwanzig Jahre aufzuholen hatte?
»Moin!«, grüßte Knut, als er in die Küche trat. Er gab Sven einen Kuss und schenkte sich dann einen Becher Kaffee ein.
»Guten Morgen«, lächelte Franz.
Knut sah es sofort: Der alte Mann hatte dasselbe Lächeln wie sein Sohn. Überhaupt wirkte er im Ganzen ein wenig wie Sven – wie der Sven von damals, als Knut ihn im Theater kennen gelernt hatte. Scheu, nervös. Mann, was war Sven für ein verschrecktes Mäuschen gewesen! Und schau ihn dir heute an , dachte Knut, als er seinen Freund betrachtete. Dem Kleinen ist eine Menge Rückgrat gewachsen!
»Was willst du von mir?«, hatte Sven seinen Vater gestern nach dem ersten Schreck im Treppenhaus angeschnauzt.
»Ich … ich wollte dich sehen«, hatte der alte Herr gestammelt.
»Das ist ja ganz was Neues!«, hatte Sven geknurrt. Doch Knut spürte, wie aufgewühlt, hin- und hergerissen zwischen Freude und Wut sein Freund im Inneren war.
»Ich wollte dich immer sehen. Seit Jahren!«, flehte Svens Vater. »Es ging nicht! Es war kompliziert …«
»Woher hast du überhaupt meine Adresse?«, fragte Sven.
»Von Heinz.«
Sven sah seinen alten Herrn verständnislos an.
»Heinz«, erklärte der. »Piets Vater! Er war der Einzige, mit dem ich noch Kontakt hatte. Er hat mir regelmäßig geschrieben und mir berichtet, was er von Piet über dich erfahren hat. Er hat immer möglichst unauffällig nach dir gefragt. Und dann hast du dich mit Piet gestritten, und vier lange Jahre habe ich nichts über dich erfahren! Das war schrecklich!«
»Du …« Jetzt standen Sven Tränen in den Augen. »Du hast dich nach mir erkundigt?«
»Natürlich!«, sagte Franz. »Du bist mein Sohn !« Für einen kurzen Moment sah es aus, als würde Franz auf Sven zugehen, ihn womöglich sogar umarmen wollen, doch dann erstarrte Franz in der Bewegung, ließ die Schultern sinken und fuhr fort: »Und als ich endlich von Heinz hörte, dass ihr, Piet und du, euch wieder vertragt, und als ich hörte, dass du dich … geoutet hast …, da wollte ich … da konnte ich … endlich …«
Svens Vater stockte die Stimme. Sein Körper bebte, und offenbar war er kurz davor zusammenzuklappen. Er konnte nicht mehr sprechen, und auch Sven sagte nichts. Knut ging kurz entschlossen zur Wohnungstür und schloss sie auf. »Kommen Sie rein«, sagte er zu dem zitternden Mann. Und der folgte ihm dankbar in die Wohnung. Sven ging hinterher.
Zuerst umkreiste Sven seinen Vater misstrauisch, immer noch voll Wut auf den Mann, der ihn als Kind einfach verlassen und sich nie gemeldet hatte. Doch dann siegten die Neugier, das Mitleid, vielleicht auch ein uralter Instinkt, der Kinder mit ihren Eltern unsichtbar und auf ewig zusammenschweißte. Und es siegte die seltene Fähigkeit zur völligen Vergebung. Die hatte Sven schon bei Piet bewiesen – und er zeigte sie auch bei Franz. Das war einer der Gründe, warum Knut Sven so liebte: Er hatte ein Vier-Personen-Herz.
Franz hatte seine Familie verlassen, weil er das Lügen nicht mehr ertrug. Und auch wenn Franz sich alle Mühe gab, Svens
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