Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition)

Titel: Die denkwürdige Geschichte der Kirschkernspuckerbande (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gernot Gricksch
Vom Netzwerk:
innehielt. Also blieb auch Knut stehen. Er hob den Blick, sah erst Sven an, der erstarrt auf der Treppe stehen geblieben war, dann blickte er die Stufen hinauf. Dort, direkt vor Svens und Knuts Wohnungstür, stand ein Mann, so etwa fünfzig Jahre alt, grauhaarig.
    »Hallo, Sven«, sagte der seltsame Unbekannte mit leiser, brüchiger Stimme.
    Sven starrte ihn bloß an. Der Mann trat von einem Bein aufs andere und biss sich nervös in die Unterlippe. »Sven?«, fragte er fast flehend.
    »Papa?«, flüsterte Sven.
    * * *
    Eigentlich hätte ich an diesem Samstag Dienst gehabt – irgendeine alte Dame, die seit dreißig Jahren ehrenamtlich eine Suppenküche für Obdachlose organisierte, sollte mit einem Orden der Stadt ausgezeichnet werden. Die Morgenpost plante ein doppelseitiges Porträt der netten Oma. Menscheln nennt man diese Art von nachrichtenfreier Berichterstattung. Ich meldete mich jedoch krank und schickte einen Volontär zur Ordensverleihung ins Rathaus. Der hatte bislang nur Fünfzeilenmeldungen verfassen dürfen und freute sich aufrichtig über den großen Auftrag. Ich dagegen freute mich auf ein Frühstück mit Susann!
    Pünktlich auf die Minute klingelte ich an der Tür ihrer Altbauwohnung im feinen Harvestehude. Susann war gerade am Telefon, als sie mir öffnete. Sie trug das Gerät mit sich herum, und ich achtete beim Hereinkommen darauf, nicht über das Kabel zu stolpern, das hinter ihr wie ein Fallstrick durch den Flur verlief. Susann lächelte mich an, während sie in den Hörer sprach: »Ja! Der Empfang ist toll! Nur ein leichtes Knacken! Du hörst es auch? Ja, genau: So ein Knack-knack !«
    Ich grinste.
    »Vom Flugzeug aus! Wer hätte das gedacht!«, simulierte Susann Begeisterung, während sie mir einen halb entschuldigenden, halb verschwörerisch amüsierten Blick zuwarf. Ich stellte mir vor, wie Norbert gerade im Flieger nach Frankfurt saß, das Koffertelefon auf einem leeren Sitz neben ihm aufgebaut, und wie sich dieser Lackaffe euphorisch in sein klobiges Sprechgerät brüllend darüber freute, dass er auch von oberhalb der Wolken ein Ferngespräch führen konnte. Telefonieren aus Spaß! Begeistert in einen Hörer zu sprechen, obwohl man eigentlich gar nichts zu sagen hat – was für eine exotische und schier unglaubliche Macke!
    Susanns Stimme wurde leiser. Sie drehte mir den Rücken zu, doch ich hörte es trotzdem. Sie sagte: »Ich dich auch.«
    Mein Herz sank.
    Doch was traf mich ihre nicht an mich gerichtete Liebesbekundung eigentlich? Ich wusste, dass sie Norbert heiraten würde! Und ich war wirklich nicht gekommen, um sie davon abzubringen. Ich war hier, weil …
    … weil …
    Ich war hier, weil ich in Susanns Nähe sein wollte! So einfach war das. Ich wollte sie sehen, mit ihr reden. Ich wollte im selben Raum sein wie sie!
    Susann hatte gerade aufgelegt und wollte das Telefon zurück auf das kleine Schränkchen im Flur stellen, als es erneut zu klingeln begann. »Ja?«, meldete sich Susann. Und dann hörte sie sehr lange zu, sagte selbst jedoch nichts außer bloß gelegentlich »Mmh«, »Oh!« und »Auweia!«.
    Sie stand wieder mit dem Rücken zu mir, also warf ich inzwischen einen Blick ins Wohnzimmer. Stilvoll, doch. Ein bisschen zu stilvoll für meinen Geschmack: fast alles war schwarz – das Ledersofa, die Regale, das Sideboard, auf dem die schweineteure, schwarze HiFi-Anlage von Bang und Olufsen sowie der schwarze Fernseher standen. Schwarz war schon seit einigen Jahren die bevorzugte Nichtfarbe meiner Generation: Möbel, Autos, Jeans – die Achtziger waren schwarz.
    Als ich vorsichtig eine andere Tür aufschob, wurde es schlagartig heller: Dies war ganz eindeutig Susanns Arbeitszimmer. Auf den Fensterbänken und auch auf dem Boden wimmelte es von Pflanzen, an der einen Wand standen zwei Kiefernregale, die mit Büchern voll gestopft waren: viel historisches Zeugs, das sie sicher für ihren Geschichtsunterricht brauchte. Sie hatte gestern erzählt, dass sie ein Referendariat am Helene-Lange-Gymnasium begonnen hatte. Es fiel mir nicht schwer, mir Susann als Lehrerin vorzustellen. Sie konnte schon immer Dinge gut erklären und komplizierte Sachverhalte mit wenigen Worten auf den Punkt bringen. Daran wurde ich ja erst am Abend zuvor im Pickenpack wieder erinnert.
    Zwischen all den Büchern übers alte Rom, die Etrusker und das Dritte Reich standen Romane von Erica Jong, Günther Grass, Marcel Proust, Honoré de Balzac. Da stand auch, noch eingeschweißt, der nagelneue

Weitere Kostenlose Bücher