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Die Depressionsfalle

Die Depressionsfalle

Titel: Die Depressionsfalle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Braumüller <Wien> , Alfred Springer
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Erkrankungen berichtet. Diese Berichte erregten starkes öffentliches Interesse. Die Psychiatrie bemächtigte sich zunehmend der Frage. Dies alles wies darauf hin, dass sich einschneidende Veränderungen in der Haltung des japanischen Volkes ergeben hatten. Grund genug, die Ursachen und Hintergründe sowohl der gesellschaftspolitischen Veränderungen aufzudecken als auch die Bedingungen der steigenden Tendenz zur Medikalisierung von Selbstmord und Depression zu untersuchen.
    2004 beschrieb und interpretierte der prominente amerikanische Experte für transkulturelle Psychiatrie Laurence J. Kirmayer die japanische Situation als Mitglied einer Arbeitsgruppe, die sich mit den ethischen und kulturellen Bedingungen und Auswirkungen der Popularität der Antidepressiva auseinandersetzte. Kirmayer ging der Frage nach, warum in Japan, obwohl das Land über eine gut ausgebaute und nach westlichen Standards ausgerichtete Psychiatrie verfügt, die Verbreitung der Verschreibung von SSRI gegenüber der westlichen Welt verzögert ablief. Japanische Psychiater hatten die Arzneimittel schon früher importiert und an ihre Patienten abgegeben, das hatte aber keine große Nachfrage bewirkt. In den späten 80er Jahren hatte sich Eli Lilly aufgrund einer Marktanalyse dafür entschieden, Prozac nicht auf den japanischen Markt zu bringen. Die Analyse hatte erbracht, dass es keinen Bedarf für Antidepressiva gab. Japan blieb zunächst unberührt von der rasanten Entwicklung im Westen. Die Krankheiten und die Arzneimittel waren in dieser Zeit in Japan weitgehend unbekannt. Eine Änderung dieser Situation ergab sich erst, als die SSRI ab 1999 aggressiv vermarktet wurden. Die Verschreibungshäufigkeit nahm rasch zu und die Verkaufszahlen gingen steil in die Höhe. Schließlich erreichte im Herbst 2001 dasSSRI-Präparat Paxil/Seroxat einen monatlichen Umsatz von ungefähr 10 Millionen Dollar.
    Kirmayer untersuchte die kulturellen Hintergründe dieses Prozesses und zeigte auf, dass er vor allem auf einer differierenden Bewertung depressiver Phänomene beruht. In Japan ist das Phänomen der Depression zwar wohlbekannt, wird aber anders benannt. Es tritt auf andere Weise in Erscheinung und wird gesellschaftlich anders beantwortet als in westlichen Kulturen. Zustandsbilder, die in Europa oder in den USA als leichte oder mittelschwere Depressionen eingestuft werden, wurden in Japan vor der Einführung der SSRI nicht als krankhafte Phänomene bezeichnet, sodass lediglich schwere Zustandsbilder Behandlung fanden und diese Behandlung zumeist stationär verlief. Das wiederum hängt damit zusammen, dass Trauer, Sensibilität, Traurigkeit und Verlustgefühle nicht negativ bewertet werden, sondern als unvermeidlicher Anteil menschlicher Erfahrung gelten. Auch als in der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts die psychiatrische Auffassung, dass Depression als Krankheit zu bezeichnen sei, mehr Raum gewann, wurde milderen Formen der Depression kein Krankheitswert zugeschrieben. Erst wenn eine Person merklich beeinträchtigt war, wurde die Diagnose gestellt. Der japanischen Tradition entsprach es dabei, die Krankheit nicht im Gehirn zu lokalisieren, sondern sie in einem kulturspezifischen, psychosomatischen Verständnis mit anderen Organen in Bezug zu setzen. Daher beklagen die meisten Patienten, die unter leichten Störungen leiden oder im Sinne der aktuellen Diagnostik „dysphorisch“ sind, körperliche Symptome und werden mit anxiolytischen, also angstmindernden Substanzen behandelt.
    All diese Traditionen mussten die Einführung der SSRI erschweren. Sowohl die Wirkungen, die den Substanzen zugeschrieben wurden, als auch der Wirkungsmechanismus, der im Westen zur Akzeptanz der Depression als Krankheit beigetragen hatte, standen in Widerspruch zu dem in Japan vorherrschenden Verständnis. Zum einen weil sie als „Heilmittel für eine gestörte Hirnfunktion“ verkauft wurden, und zum andern, weil die Botschaften über die Wirksamkeit der SSRI nicht mit den japanischen Vorstellungen über Persönlichkeit, Affekte und Affektregulation sowie über das „richtige“ sozialeVerhalten übereinstimmten. Medikamentös eingeleitete Veränderungen der Persönlichkeit in Richtung Effizienz, verstärkter Extroversion und Überschwänglichkeit, die in den USA und zunehmend auch in Europa als positive Persönlichkeitsmerkmale imponieren, galten in

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