Die Depressionsfalle
und einer Art âpharmakologischerKolonialisierungâ Vorschub leistet. Arthur Kleinman, Professor für Psychiatrie in Harvard und Experte für transkulturelle Fragen, drückte anhand der japanischen Entwicklung seine Sorge aus, dass die pharmazeutische Industrie aufgrund ihrer finanziellen Stärke die Möglichkeit habe, ganz grundsätzlich Stimmungen und Gefühle als medizinische Probleme zu bezeichnen und dadurch eine âPharmakologie des schlechten Gewissens und der Reueâ zu schaffen. In dieser Möglichkeit erkennt Kleinman eine wesentliche Gefahr; sie ist, seiner Meinung nach, einer der mächtigsten und problematischsten Aspekte der Globalisierung. Japan zeige auf, wie weit man in dieser Gefährdung schon vorangeschritten sei. 76 Ãhnliche Gefahren ortet Andrew Solomon in seinem vielgelesenen Buch
Saturns Schatten. Die dunklen Welten der Depression
(2001). Auch er meint, dass die aktuelle Medikalisierung der Depression alle anderen Zugänge zu dem Phänomen verdränge und letztlich zu einer völligen Vereinheitlichung der Ideen über Gesundheit und Krankheit führe.
Kirmayer problematisierte in seinem Essay über die japanische Entwicklung, dass die Medikalisierung der Depression, die in Japan und anderen entwickelten Nationen von Pharmaindustrie und Psychiatrie vorangetrieben wurde, später auch auf Entwicklungsländer ausgedehnt wurde. Diese Bestrebungen seien auch von der Weltgesundheitsbehörde durch ein Programm unterstützt worden, das von verschiedenen Arzneimittelfirmen finanziert wurde. Auch wenn man berücksichtigen muss, dass die japanische Entwicklung einen fortschrittlichen Aspekt aufweist, da bereits lange bestehende Probleme erkannt und nun auf neue Weise behandelt werden, bleibt dennoch der bittere Beigeschmack, dass sie einer Tendenz zur âglobalen Monokultur der Fröhlichkeitâ den Weg bereitet, in der wir alle verpflichtet sind, ein gutes Leben zu erreichen, das wieder dadurch charakterisiert ist, dass wir keine Schmerzen verspüren, uns in jeder Beziehung wohlfühlen und jederzeit fähig und bereit sind, in weitest möglichem Umfang an der Konsumgesellschaft teilzunehmen. Dadurch, dass das Leid und die Leidenserfahrung an chemischen Prozessen festgemacht und individualisiert werden, wird einerseits der Eindruck erweckt, dass Partizipation an dieser Monokultur durch chemische Manipulation erleichtert werden kann, und andererseitsdie Erkenntnisfähigkeit bezüglich realer sozialer Probleme beschränkt wird.
Aus japanischer Sicht hat allerdings Junko Kitanaka in ihrem Buch
Depression in Japan
2011 eine Korrektur der industriekritischen Position durchgeführt. 77 Einerseits bestätigt die Autorin die Auswüchse der Bewerbung der SSRI und meint auch, dass diese dazu beigetragen hätten, dass man sich der Depression auf neue Weise bewusst geworden sei. Aber sie sieht auch andere Faktoren, die dazu beigetragen haben, dass letztlich die Depression in Japan zu einer âKrankheit der Nationâ werden konnte. Sie bezweifelt auch, dass diese Entwicklung zu einem Siegeszug der biologischen Erklärungsmodelle geführt hat. Die japanischen Psychiater hätten vielmehr erneutes Interesse an den sozialen und kulturellen Hintergründen der Depression entwickelt. Die Geschehnisse in den 90er Jahren hätten dazu geführt, dass Psychiater nunmehr die Begrifflichkeit der Depressionslehre nutzen, um ihre Patienten davon zu überzeugen, dass sie Opfer von biologischen und sozialen Geschehnissen sind, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Interessanterweise gilt das Hauptinteresse des neuen japanischen Konzepts dem Leiden der Männer. Dies auch deshalb, weil die Arbeitsbelastung und der âSelbstmord durch berufliche Ãberlastungâ zu zentralen Themen geworden sind. Alles in allem schreibt Kitanaka der Psychiatrie in diesem Kontext die Funktion zu, eine neue Kraft in einer sozialen Veränderung zu repräsentieren, die darüber hinaus geht, dass es gelungen sei, den Widerstand dagegen zu brechen, der Depression eine Rolle innerhalb der japanischen Gesellschaft zu gewähren. Wohl würden, wie überall sonst auch, leidende Menschen medikamentös behandelt, aber die Psychiater hätten sich ihre Sensibilität gegenüber den Einflüssen der Gemeinschaft bewahrt und seien durchaus bereit, in ihrem Konzept die Krankheit Depression zu politisieren.
Das Studium der Verhältnisse in
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