Die Depressionsfalle
Japan nicht als Entwicklungsziele, da die sozialen Normen der japanischen Kultur Zurückhaltung, Distanz und Ruhe im zwischenmenschlichen Verhalten fordern. Die âNormalitätâ des Verhaltens ist eben keine unabhängige Konstante, sondern wird durch kulturelle Regeln bestimmt.
Laurence Kirmayer vermerkte zwar, dass sich ab 2001 eine erstaunliche Veränderung hinsichtlich der Akzeptanz der SSRI ergeben hatte, ging aber nicht ausführlich der Frage nach, wie diese neue Situation hatte entstehen können. Er verwies aber darauf, dass die Pharmaindustrie und die Psychiatrie Hand in Hand gearbeitet hätten, um die Auffassung, dass Depression eine behandelbare Krankheit sei, in der Bevölkerung zu verbreiten und er nannte diesen Prozess âaggressive Medikalisierungâ. 74
Genau diesem Problem widmete sich die Journalistin Kathryn Schultz, die im August 2004 die Ergebnisse ihrer Recherchen unter dem provokanten Titel
Did Antidepressants Depress Japan?
in der
New York Times
veröffentlicht hat. Der Aufsatz informiert gründlich über die Praktiken, die die Pharmaindustrie eingesetzt hat, um den Umsatz der SSRI in Japan zu steigern. Schultz zeigte auf, dass es der Industrie in kurzer Zeit gelungen war, eine Gesellschaft bzw. eine Kultur dazu zu bringen, die kulturellen Konzepte von Gesundheit und Krankheit neu zu definieren. Zu diesem Zweck lieÃen die Pharmafirmen aggressive Kampagnen für ihre Produkte ablaufen, die exakt die Aufgabe verfolgten, das traditionelle Konzept und das Verständnis von Leiden als Grunderfahrung der menschlichen Existenz durch ein medizinisches Konzept abzulösen, das Leiden als einen Krankheitszustand definiert, der durch eine Pille behandelt werden kann. Ein Product-Manager für Paxil/Seroxat sagte Schultz offenherzig, dass er den Eindruck habe, dass die japanische Bevölkerung nicht wüsste, dass sie unter einer Krankheit litt und dass es daher sehr wichtig war, die Botschaft an sie heranzubringen, dass Depression auch in leichter Ausprägung ein medizinisches Problem sei, das jeden befallen könneund das durch Arzneimittel geheilt werden könne. In den Informationskampagnen wurde besonderer Bedacht darauf gelegt, die Auffassung zu transportieren, dass die Behandlungsmöglichkeit durch eine möglichst frühe Erfassung der Krankheit verbessert werden könne.
Um diese Ziele zu erreichen, wurde einerseits die Ãffentlichkeit mit einer Informationskampagne über ein neue, weit verbreitete Krankheit (kokoro no kaze) bombardiert, und es wurden andererseits Ãrzte von den 1350 in Japan Paxil/Seroxat bewerbenden Firmenvertretern durchschnittlich zweimal pro Woche aufgesucht. Diese Vertreter empfahlen, die SSRI gegen Symptome wie Kopfdrücken, Schulterverspannungen, Rückenschmerzen, Schlafstörungen, Müdigkeit, schlechten Appetit und Faulheit einzusetzen. Diese vielgefächerten Aktionen hatten offenkundig Erfolg. Innerhalb von fünf Jahren, zwischen 1998 und 2003, vervierfachte sich der Umsatz der SSRI. Für GlaxoSmithKline ergab sich aus dem Verkauf von Paxil allein von 2001 bis 2003 eine Umsatzsteigerung von 108 auf 298 Millionen Dollar. Es war möglich, eine Beziehung zwischen den industriegesteuerten Aufklärungskampagnen und dieser Entwicklung herzustellen. GlaxoSmithKline berichtete, dass während einer Kampagne, die sieben Monate lang ablief, 110.000 Menschen aus der Gesamtbevölkerung von 127 Millionen ihre Ãrzte wegen Depression konsultierten. Selbst Yutaka Ono, ein Psychiater, der dafür war, das Bewusstsein für depressive Erkrankungen anzuregen, zeigte sich von der Art und Weise, wie die Kampagne durchgeführt wurde, beunruhigt. Er beklagte, dass die Firmen eine zügellose Informationskampagne über leichte Depressionen durchführten, die illusionäre Wunschvorstellungen über die Wirkungen der Antidepressiva erwecken sollte: âDa zeigen sie eine schöne junge Frau, die sagt: âIch ging zu meinem Arzt und jetzt bin ich glücklich.â Aber, so einfach istâs um die Depression nicht bestellt. Und wennâs so einfach geht, dann warâs keine Depression.â 75
Die Entwicklung in Japan wird als Modell für die Fähigkeit der Pharmaindustrie angesehen, in gewinnsüchtiger Absicht Konzepte von Krankheit und Gesundheit zu etablieren. Diese Erkenntnis wieder hat Befürchtungen ausgelöst, dass die Pharmaindustrie die kulturelle Vielfalt gefährdet
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