Die Depressionsfalle
werden. In der Frage der Depression kann sie dazu genutzt werden, jedes Gefühl oder jegliche Verstimmung innerhalb des âDepressionskontinuumsâ als krankhaft zu bewerten. Die Ursachen spielen dann keine Rolle. Auch wer aus gutem Grund traurig, mutlos oder antriebslos ist, befindet sich nicht im âZustand des vollständigen Wohlergehensâ â daher ist er krank.
Die Psychiatrie passte sich dieser neuen Situation rasch an. Die Depression war besonders geeignet, die Therapie zur Herstellung des Wohlergehens umzufunktionieren. Aber auch die Bereitschaft, das Spektrum psychischer Erkrankungen unendlich auszuweiten, das gerade heute in besonderer Weise in der Neufassung des amerikanischen Diagnose- und Klassifikationssystems DSM zutage tritt, passt gut zum erweiterten Krankheitsmodell der WHO. In dieser Bibel der Diagnostik scheint eine Flut neuer Störungen auf, denen nur eins gemeinsam ist: von der traditionellen Psychiatrie würden sie nicht als Krankheiten erfasst, aber in einem erweiterten Verständnis,das eventuell die WHO-Definition missbraucht, erscheinen sie als Krankheiten, weil sie auf irgendeine Weise zum Ausdruck bringen, dass eine Störung des âWohlergehensâ vorliegt. Dieser erweiterte Krankheitsbegriff verlangt nach erweiterten Behandlungsmethoden. Dann können Personen, die nach traditionellen medizinischpsychiatrischen Kriterien nicht als krank zu bezeichnen sind und sich auch nicht als krank verstehen, nach antidepressiv wirksamen Arzneimitteln verlangen, und dann werden auch die behandelnden Ãrzte eine Begründung dafür finden, dass diesem Verlangen stattgegeben wird. An diesem Ort nimmt die Erfolgsgeschichte der âkosmetischen Psychiatrieâ und der präventiven Behandlung im Sinne von Peter Kramer ihren Ausgang. Diese Entwicklung eröffnete die âPsychofalleâ, in die die Psychiater und ihre Patienten geraten. Die Falle öffnete sich, als sich die Psychiatrie in neuer Weise als medizinische Disziplin positionierte und dabei der Verlockung nicht widerstehen konnte, durch die Simplifizierung der Erkenntnisse über den Bezug zwischen dem Zustand des Gehirns und dem Phänomen der Geisteskrankheit die Hoffnung auf âmagische Lösungenâ schürte. Der Auftrag, Wohlbefinden/Wohlergehen herzustellen, hat zu einer Veränderung der Psychiatrie geführt. Die traditionelle Psychiatrie und die klassischen psychotherapeutischen Schulen boten Hilfe an, sie wollten den Krankheitsverlauf beeinflussen. Das Wohlbehagen des Patienten war nicht erstes Therapieziel. Die Erfahrung einer raschen Veränderung des Bewusstseins und der Stimmung und diese rasche Erzeugung von Wohlergehen waren in dieser Phase von der Psychiatrie nicht zu erwarten. Wollte man diese Bedürfnisse befriedigen, griff man zu âTonikaâ und zu Rausch- und Genussmitteln, legalen und verbotenen. Die Entwicklung der Psychopharmakologie schien die Erfüllung des Wunschtraums als Funktion der psychiatrischen Behandlung zu ermöglichen. Neuen Psychopharmaka wurden fast magische Qualitäten zugeschrieben, der Triumphzug der biologischen Psychiatrie setzte ein. Die Psychiatrie hat in diesem Prozess neue akademische Verankerung gewonnen und ihre ökonomische Lage verbessert. Gleichzeitig haben sich aber ihr Profil und ihre Funktion in ihrem Wesen verändert. Aus einer Lehre und Praxis, die sich mit definierten psychischen Krankheiten befasst, wurde eine umfassendeInstanz, die nicht mehr nur kranken Menschen zur Verfügung stand, die unter schweren Störungen ihres Empfindens, ihrer Wahrnehmung und ihrer Vernunft litten. Sie kann auch âleichtenâ Fällen und selbst dem Anspruch, dass man sich psychisch âwohlâ bzw. âbesser als gutâ fühlen möchte, dienstbar gemacht werden. Gestützt wird diese Praxis durch die strikte Ãberzeugung, dass die emotionellen Reaktionen des Menschen eigenständig biologisch gesteuert werden und dadurch, dass die Depression zu einem Oberbegriff wurde, unter dem Zustände verschiedener Art und Genese erfasst werden.
In dieser Transformation nahmen die Arzneimittel eine Schlüsselfunktion ein. Dadurch, dass die gebräuchlichen modernen Arzneimittel nicht spezifische Symptome einer speziellen Krankheit beeinflussen, sondern in einem breiten Spektrum auf das weite Land menschlicher Gefühle und Stimmungen einwirken, wird zunehmend ihr Einsatz nicht mehr an eine
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