Die Depressionsfalle
diagnostisch definierte Krankheit angepasst, sondern die Diagnostik findet umgekehrt, angepasst an erwartbare Arzneimittelwirkungen, statt. Dieser Perspektivenwandel gebietet es, ständig neue Krankheiten und Krankheitskategorien zu erfinden; insofern entsteht der Eindruck, dass die âkosmetische Psychopharmakologieâ nicht mehr die Ausnahme, sondern die Norm psychiatrischer Intervention ist.
Ein kritischer Geist wie Edward Shorter konnte in dieser Situation zum Schluss kommen, dass die Psychiatrie einen Irrweg eingeschlagen hat, auf dem sie ânicht vorhandene Krankheiten mit unwirksamen Medikamentenâ behandelt.
Auch die psychiatrische Diagnostik passte sich den veränderten Bedingungen an. Seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird beklagt, dass die Depression zu wenig diagnostiziert wird und die Menschen, die an der Krankheit leiden, daher nicht ausreichend Behandlung finden. Es wurde gefordert, dass die diagnostischen Fähigkeiten aller Ãrzte in dieser Fragestellung verbessert werden müssten. Noch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends wurde die niedrig erscheinende Erkenntnisrate depressiver Erkrankungen in der hausärztlichen Praxis kritisiert. Sie wurde in der Forschung mit 40 bis 60 Prozent angegeben. Für Deutschland berichteten Wittchen und Pittrow (2002) eine Erkennensrate von 55 Prozent. Nach diesenUntersuchungen leidet die diagnostische Zuordnung darunter, dass die bei leichteren Formen der Depression häufig im Vordergrund stehenden körperlichen Symptome dem Arzt die richtige Diagnosestellung erschweren und zu symptomatischen Behandlungen führen, die die oftmals zugrunde liegende Depression nicht berücksichtigen.
Trotz dieser kritischen Darstellungen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass nicht mehr zu wenig, sondern eher zu viel Fälle â oder die falschen Fälle â als depressiv bezeichnet und behandelt werden. Der Boom in der Diagnose, der in den 80er Jahren einsetzte und den wir in der Einleitung beschrieben haben, kann nicht auf eine verbesserte diagnostische Fähigkeit der Ãrzte zurückgeführt werden, sondern auf eine reduktionistische Diagnostik und auf Screening-Verfahren, die weitgehend auf feinere Differenzierungen verzichten und das Spektrum von Empfindungen und Gefühlen, die als krank bewertet werden, erweitert haben. Folgerichtig besteht auch heute noch das Problem, dass die schwere Depression nicht ausreichend diagnostiziert wird. Zumindest wird das von den internationalen Gremien der Gesundheitspolitik behauptet und in sozialpsychiatrischen Untersuchungen belegt. Zum Beispiel gaben Hans-Ulrich Wittchen und Frank Jacobi (2001) für Deutschland eine Behandlungsquote der Major Depression von 44 Prozent an.
Diese Entwicklung der Diagnostik psychischer Erkrankungen und Störungen erregte zwar Kritik, wird aber nichtsdestoweniger weiter vorangetrieben, wie man anhand der amerikanischen Diagnostik erneut beobachten kann. Am 21. 1. 2013 erschien im deutschen Nachrichtenmagazin
Der Spiegel
ein groÃer Artikel unter dem Titel
Was ist noch normal? Die Psychofalle
. Darin wurde ausführlich über die Diskussion um die Neufassung des DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) in den USA berichtet, auf die wir mehrfach hingewiesen haben. Die vorgesehenen Ãnderungen lassen befürchten, dass in Hinkunft noch mehr Menschen als krankhaft depressiv erfasst werden, da die Kriterien, nach denen dieses Krankheitsbild erfasst werden soll, erweitert werden sollen.
Prinzipiell wird damit ein Prozess weiter vorangetrieben, der schon früher durch Umgestaltungen des DSM eingesetzt hat. Er entspricht auch der Vorstellung der WHO, die, um die Versorgungslage derDepressiven zu verbessern, ein Screening-Instrument zur Selbstdiagnose entwickelt hat, das auf lediglich fünf Fragen beruht. In diesem Fragebogen wird erfasst, ob eine Person in den letzten zwei Wochen
⢠froh und guter Laune war,
⢠sich ruhig und entspannt gefühlt hat,
⢠sich energisch und aktiv gefühlt hat,
⢠sich beim Aufwachen frisch und ausgeruht gefühlt hat,
⢠ihren Alltag voll von interessanten Dingen empfunden hat. 78
Anhand der zeitlichen Verteilung dieser Empfindungen auf einer Skala von âimmerâ bis ânieâ kann dann selbst bewertet werden, ob eine Depression vorliegt. Noch einfacher gestaltet sich das Screening zur Erfassung der Post-partum-Depression.
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