Die Depressionsfalle
Auseinandersetzungen mit Sehnsüchten, enttäuschten Wünschen, Zorn, Auflehnung, Schmerz, Kummer, mit dem Konflikt zwischen moralischer Verantwortung und Schuldzuweisung, mit Schuld, mit dem Kampf zwischen Liebe und Hass, sowie zwischen dem Wunsch zu zerstören oder zu erschaffenâ. 17
Trauer und Depression:
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Für Trauer gibt es einen Anlass, nämlich einen benennbaren Verlust: den Tod einer nahestehenden Person zum Beispiel. Eine â in manchen ländlichen Bereichen noch gepflegte â Tradition trägt dem Leid des trauernden Hinterbliebenen Rechnung: Die schwarze Kleidung, früher ein Jahr lang nach dem Tod des/der Nahestehenden getragen, signalisiert den besonderen Ausnahmezustand, in welchender Angehörige durch den Verlust geraten ist. Gleichzeitig wurde der âAusnahmezustandâ, die Trauer des Hinterbliebenen, damit auf ein Jahr begrenzt.
In vielen Kulturkreisen werden Rituale gepflegt, wie z.B. die früher praktizierten Witwenverbrennungen in manchen Teilen des indischen Subkontinents, die unter anderem auch das Unerträgliche des Sich-Verlassen-Fühlens signalisieren. Die Dichterin Mascha Kaléko beschreibt dieses âHinterblieben-Seinâ in dem Gedicht
Memento
:
Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tod derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast ich todentlang
und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weià es wohl, dem Gleiches widerfuhr â
und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der anderen muss man leben. 18
Die Dichterin, aus Berlin ins Exil getrieben, eine Wandernde zwischen Europa, den USA und Israel, musste ihren geliebten Mann und den geliebten Sohn allzu früh im Ausland begraben â¦
Bei vielen leichteren und mittelschweren depressiven Verstimmungszuständen ist im Diagnosegespräch ein dieses Leid mitverursachender Verlust als Anlass zu identifizieren. Da die Patienten von sich aus einen möglichen Zusammenhang zwischen einem z.B. ideellen Verlust (etwa dem enttäuschten Abwenden von einer Ideologie) und ihrem Verstimmungszustand nicht herstellen können oder wollen, weil darüber traurig zu sein nicht zu dem Bild passt, das man von sich hat, ist beharrliches Nachfragen des Arztes/der Ãrztin wichtig.
Eine schwere Depression wird im Unterschied dazu von den Betroffenen primär als âanlasslosâ erlebt. Erst im Laufe einer Psychotherapie kann deutlich werden, dass die Heftigkeit der Depression alsSignal für ein unangemessenes Reagieren auf eine aktuelle Situation immer darauf hindeutet, dass auf eine frühkindliche katastrophale Erfahrung â unbewusst â âmitreagiertâ wird. Die moderne Hirnforschung lehrt uns, dass nichts, was wir jemals erlebt, geträumt, gedacht oder fantasiert haben, verloren ist â schon gar nicht die Schicksalsschläge (s. Kap. Psychotherapie).
Zur Entstehung schwerer Depressionen â die Depressive Position
Die Symptome schwerer psychischer Erkrankungen wurden und werden von Ãrzten und Laien häufig als nicht nachfühlbar erlebt; jede Analogie zum ânormalenâ Seelenleben wurde und wird negiert. Dieser unwissenschaftlichen Position setzt die psychoanalytische Psychosenlehre die aus der Arbeit mit Patienten gewonnene Einsicht entgegen, dass das âkrankeâ, oft bizarre oder sonderbare Verhalten auch bei schwerster psychischer Erkrankung als Reaktionsform auf unbewusst gewordene Erfahrungen der frühesten Kindheit verstanden werden kann. Die Psychoanalyse nimmt immer eine multikausale â also mehrere Ursachen umfassende â Entstehungstheorie an: Körperliche Faktoren einschlieÃlich von Erbfaktoren sowie seelische und soziale Ursachen werden als miteinander in Wechselwirkung stehend gesehen.
Die österreichisch-britische Psychoanalytikerin und Pionierin der Kinderpsychoanalyse, Melanie Klein, beschrieb mögliche âFixierungsstellenâ für schwere psychische Erkrankungen im Laufe der Wechselbeziehung zwischen der körperlichen und seelischen Entwicklung des Kindes. Wichtig ist, dass es sich dabei um Entwicklungsphasen handelt, die wir alle durchmachen, die also ânormalâ sind. Unter bestimmten Bedingungen oder Umständen jedoch, die meist gesellschaftlich mitbedingt
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