Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Funktion der Regierungschefin die Rede zum Tag der Deutschen Einheit hielt. Sie berichtete von einem Buchgeschenk ihres Adlershofer Zimmergenossen Michael Schindhelm im Wendeherbst 1989. »Gehe ins Offene!«, habe er ihr als Widmung hineingeschrieben. »Das war mit das Schönste, was man mir zu dieser Zeit sagen konnte.« Aus der Physikerin Merkel war in jenen Tagen erst die Pressesprecherin des Demokratischen Aufbruchs geworden, dann die stellvertretende Regierungssprecherin der letzten DDR-Regierung, schließlich eine Ministerin im ersten gesamtdeutschen Kabinett Helmut Kohls. Ihr einstiger Kollege Schindhelm, der zu jener Zeit als Übersetzer in Nordhausen lebte, begann am dortigen Theater eine Karriere als Intendant und Kulturmanager, die ihn über Gera, Basel und Berlin bis nach Dubai führte.
Von diesem »Gang ins Offene« sagte Merkel in ihrer Kieler Rede: »Das war die Haltung, mit der wir, Ost- und Westdeutsche, in den Umbruch jener Zeit gegangen sind.« In Bezug auf die große Mehrheit der Westdeutschen war das stark übertrieben. Natürlich gab es die »Wossis«, die sich mit Begeisterung auf das Neue stürzten und bei Heimatbesuchen in Tübingen oder Düsseldorf staunten, dasssich dort überhaupt nichts veränderte. Merkels Vertrauter und späterer Verteidigungsminister Thomas de Maizière, der heute in Dresden lebt, zählte zu diesen Pionieren der ersten Stunde, aber auch zahlreiche Professoren, Verwaltungsbeamte oder Unternehmer. Gelegentlich mussten sie sich vorwerfen lassen, sie besäßen für eine Karriere in den älteren Bundesländern gar nicht die nötige Qualifikation. Das behaupteten vorzugsweise jene Landsleute in Ost wie West, denen die Lust aufs Neue abging.
Einiges spricht für die These des Journalisten Toralf Staud, die Ostdeutschen seien nach ihrem Beitritt zur Bundesrepublik zunächst so etwas wie Einwanderer im eigenen Land gewesen. »Liest man sich als Ostdeutscher durch die wissenschaftliche Migrationsliteratur, ist die Verblüffung groß«, schrieb Staud 2003. »Vieles klingt, als ginge es um deutsch-deutsche Befindlichkeiten.« Typisch sei die Auseinandersetzung zwischen einem Aufnahmeland, das Assimilation einfordere, und Immigranten, die sich höchstens integrieren wollten – verbunden mit einem Rückfall, einer verspäteten Sehnsucht nach der alten Heimat, die im deutsch-deutschen Fall als »Ostalgie-Welle« die Ostdeutschen erfasste.
Ein solcher Einwanderungsschub hinterlässt Spuren im Aufnahmeland. Durch die Integration von 17 Millionen Ostdeutschen hat sich auch die Bundesrepublik verändert, aber auf andere Weise, als man zunächst hoffte oder befürchtete. Das beginnt schon mit der Sprache. Eine Wendung wie »Fakt ist«, die zunächst in westlichen Ohren sehr ungewohnt klang, hat sich längst in ganz Deutschland durchgesetzt. Leider gilt das auch für den intransitivenGebrauch des Verbs »einschätzen«, der früher dem Ministerium für Staatssicherheit vorbehalten war: »Es wird eingeschätzt, dass …« Das Phänomen setzt sich in den Umgangsformen fort, auch in Westdeutschland geben sich jüngere Leute zur Begrüßung jetzt wieder die Hand. Und was regional begrenzt als »Ostalgie« begann, hat sich zu einer gesamtdeutschen Retro-Welle ausgewachsen, die in ganz Europa zum Exportschlager wurde.
Darin drückte sich auch die stille Sehnsucht nach der vermeintlich heilen Welt des alten Westens aus, die nicht zuletzt von Leonid Breschnew und Erich Honecker mit Mauer und Stacheldraht vor den rauhen Stürmen der Globalisierung abgeschirmt wurde. Globalisierung, Beschleunigung, ökonomischer und kultureller Wandel forderten mit einiger Verspätung auch im Westen des Landes ihren Tribut, dort kamen nun ebenfalls alte Sicherheiten ins Wanken. Nach dem Bankencrash und in der Euro-Krise schien es nicht einmal mehr ausgeschlossen zu sein, dass das westliche Wirtschaftssystem mit einem Schlag implodieren würde wie zwei Jahrzehnte zuvor die östliche Planwirtschaft. Eine ostdeutsche Politikerin, die ihren Möglichkeitssinn bereits an einem selbst erlebten Systembruch schärfen konnte, ist für solche Zeiten womöglich besser gewappnet als viele westdeutsche Kollegen.
Auch die SPD verfiel nach der Ermattung ihres westdeutschen Personals im Herbst 2005 auf die Idee, einen Ostdeutschen zum Parteivorsitzenden zu machen. Ähnlich wie einst Merkel wurde der Brandenburger Matthias Platzeck, ein Diplomingenieur für Biologische Kybernetik, zum Hoffnungsträger in der Krise seiner
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