Die Deutsche - Angela Merkel und wir
Fortschritts zu marschieren – weshalb man Kohl als politischem Exponenten des Landes persönlich übel nahm, dass er diesem Selbstbild nicht entsprach. Spätestens mit dem Amtsantritt der rot-grünen Bundesregierung schien das Land nun gesellschaftspolitisch mit sich im Reinen zu sein. Die These des Historikers Heinrich August Winkler aus dem Jahr 2000, Deutschland sei auf seinem »langen Weg nach Westen«nun endlich in Einheit und Freiheit angekommen, traf damals den Ton der Zeit, und politisch entsprach sie den Tatsachen. Nur verleitete diese Zeitstimmung das Land, sich insgesamt für moderner zu halten, als es tatsächlich war.
Frauen an der Spitze der Regierung sind bis heute im weltweiten Maßstab kein alltägliches Phänomen. Doch früher als in Deutschland kamen in Indien, Israel, Großbritannien, Portugal, Norwegen oder Frankreich Ministerpräsidentinnen an die Macht, selbst im erzkatholischen Polen oder im muslimischen Pakistan. Hierzulande war in der Zeit vor Merkel das Amt der Parlamentspräsidentin die höchste Aufgabe, die einer Frau zugedacht wurde, ähnlich wie in Italien, dem gesellschaftspolitisch wohl konservativsten unter den westeuropäischen Ländern.
Bezeichnenderweise ist in Italien und Deutschland auch die Geburtenrate am niedrigsten. Nach einem plausiblen Erklärungsansatz liegt das an einem Mutterbild, das die Anforderungen an die Elternschaft derart überhöht, dass sich keine Frau (und erst recht kein Mann) der Erziehungsaufgabe gewachsen sieht. Entweder wird »La Mamma« auf ein ehrfurchtgebietendes Podest gestellt oder das Gegenbild der »Rabenmutter« an die Wand gemalt. Anders ist das in Frankreich, wo auch die Frauen aus der Mittelschicht schon lange arbeiten gehen, eine professionelle Kinderbetreuung außerhalb der eigenen vier Wände keinen schlechten Ruf hat und deutlich mehr Kinder geboren werden. In anderen europäischen Ländern sorgt das deutsche Frauenbild bisweilen für Irritationen. Als zum Beispiel der spanische Ministerpräsident Zapaterodie Hälfte der Posten in seinem Kabinett mit Frauen besetzte und eine deutsche Zeitung von »Zapateros Modepüppchen« sprach, löste das auf der iberischen Halbinsel einen Sturm der Entrüstung aus.
Die Unsicherheit, wie mit einer Frau in Spitzenämtern umzugehen sei, war in Deutschland besonders groß. Das galt nicht nur für das gesamte Parteienspektrum, sondern auch für alle Beteiligten des Betriebs, ob es sich nun um Politiker handelte, um Journalisten oder um Wähler. Bezeichnenderweise verfielen die männlichen Parteigenossen der CDU-Vorsitzenden auf den Begriff »Mutti«, um den Führungsstil Merkels zu charakterisieren. Das mochte zwar als Herabwürdigung gemeint gewesen sein, am Ende erwies es sich jedoch als eine Art prophetischer Selbstentlarvung. Dass Merkel die einzige wirklich Erwachsene sei, die ohne pubertäres Gehabe das Naheliegende und Vernünftige in die Hand nehme: Dieses Bild setzte sich immer mehr durch, erst auf die Unionsparteien bezogen, dann auf die deutsche Innenpolitik und schließlich auf ganz Europa. Es steht zu befürchten, dass sich Merkel dieses einst aufgezwungene Fremdbild bei aller zur Schau gestellten Bescheidenheit allmählich als Selbstbild zu eigen macht.
Mit Merkels Einzug ins Kanzleramt änderte sich im Herbst 2005 auf einen Schlag die Perspektive. Bis zum Wahltag hatte die Oppositionsführerin männliche Härte unter Beweis zu stellen. Mehr noch als der bräsige Kohl galt der markige Schröder gerade auch in konservativen Kreisen habituell als Musterbild eines durchsetzungsstarken Regierungschefs. Noch im Jahr 2004 hatte der gescheiterteKanzlerkandidat Edmund Stoiber die CDU-Vorsitzende und ihren designierten Koalitionspartner Guido Westerwelle als »Leichtmatrosen« bezeichnet, die Schröder und seinem Vizekanzler Joschka Fischer nicht das Wasser reichen könnten. Damit meinte er nicht in erster Linie Merkels sozialpolitische Reformkonzepte und Westerwelles Wünsche nach Steuersenkungen, er spielte vielmehr auf die Frau und den Schwulen an. Schröder und Fischer machten es nicht anders: Wenn sich Merkel am Rednerpult des Bundestags an ihnen abarbeitete, saßen sie oft schenkelklopfend da. Bei Teilen des Publikums kam das gut an. Es gibt Hinweise, dass im Wahlkampf 2005 der Stimmungsumschwung zu Lasten der Unionsparteien keineswegs allein durch das Kirchhof-Debakel und die Angst vor sozialer Kälte verursacht wurde – sondern dass ein beträchtlicher Teil auch der weiblichen
Weitere Kostenlose Bücher