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Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Titel: Die Deutsche - Angela Merkel und wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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Partei. Ergab freilich nach wenigen Monaten wieder auf, an diesem Punkt enden die Parallelen. Auch sollte man in beiden Fällen die naturwissenschaftliche Ausbildung nicht überbewerten, die zu DDR-Zeiten einen Schutz vor den ideologischen Ansprüchen des Staates bot. Was manche Beobachter in Merkels Politikstil als physikalische »Versuchsanordnung« beschreiben, lässt sich viel plausibler aus der neutralen Sicht einer Außenseiterin erklären, die bis heute die Selbstverständlichkeiten des westdeutschen Politikbetriebs nicht vollständig verinnerlicht hat. Würde Merkel aufhören, sich über manche Rituale ihrer Kollegen zu wundern, wäre das für sie vermutlich politisch gefährlich.
    Eine Bürgerrechtlerin ist Merkel nicht gewesen, das hat sie auch nie behauptet. Auf den Untergang des ostdeutschen Staates blickt sie mit einer nüchternen Perspektive, die viele Landsleute teilen. Wenn sie darüber spricht, was ihr persönlich in der DDR am meisten fehlte, rückt sie nicht den Mangel an politischer Mitbestimmung in den Mittelpunkt. Am meisten habe sie gestört, dass man »in diesem Staat DDR nie seine Grenzen ausprobieren konnte«, sagt sie dann. Das sozialistische System sei gescheitert, weil es ein »Leben von der Substanz« betrieben habe, mit »Umweltverschmutzung, Städteverfall, Staatsverschuldung« – alles Punkte, die man heute unter dem Oberbegriff der Nachhaltigkeit zusammenfasst. Trotz solcher Bekenntnisse wuchs die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte in Deutschland während ihrer Amtszeit allerdings von 65 Prozent des Sozialprodukts im letzten Vor-Merkel-Jahr 2004 auf zuletzt rund 80 Prozent.
    Die osteuropäische Perspektive prägt auch Merkels Blick auf die Euro-Krise. Sie versteht besser als manche Westeuropäer, dass sich postsozialistische Reformstaaten wie die Slowakei mit Bürgschaften für das vergleichsweise reiche Griechenland schwer tun. Mit einem gewissen Wohlwollen nimmt es Merkel auch zur Kenntnis, wenn Vertreter der Schwellenländer die vergleichsweise reichen Krisenländer in Europa bescheiden, sie sollten sich nicht so haben. Auf dem G-20-Gipfel im Sommer 2012 bemerkte der damalige mexikanische Präsident Felipe Calderón, in seinem Land sei man in wirtschaftlich schlechten Zeiten eben auf die Straße gegangen und habe Buletten verkauft. Eine solche Haltung ist nach Merkels Geschmack. Und schließlich werden die wirtschaftlichen Folgen der europäischen Währungsunion gerade einer Ostdeutschen vertraut vorkommen, die an den 1. Juli 1990 zurückdenkt. Von Griechenland bis Portugal sank die Wettbewerbsfähigkeit mit einer ähnlichen Geschwindigkeit, wie durch erleichterte Importe der Lebensstandard stieg. Sachsen und Mecklenburger mussten diesen Schock ebenfalls durchstehen, wurden allerdings von Schwaben und Rheinländern massiv unterstützt. Und es gab in beiden Fällen politische Motive, die womöglich aus gutem Grund die ökonomischen Einwände ausstachen.
    Vermutlich rührt das meiste, was bei Merkel so etwas wie eine echte Überzeugung ist, aus einer Abwehrhaltung gegen DDR-Doktrinen her. Den hohen Stellenwert von Kapitalismus und Marktwirtschaft in Merkels Denken suchte der CDU-Politiker Heiner Geißler einmal mit der Bemerkung zu diskreditieren, sie habe zumindest amBeginn ihrer Karriere eine »typisch Ossi-liberale Position« gehabt. »Typisch« war diese Haltung nur für einen Teil der früheren DDR-Bürger. Bis heute gehen die Positionen nicht nur bei diesem Thema im Osten erheblich weiter auseinander als im Westen: Neben bedingungslos Staatsgläubigen trifft man auf unbeschränkt Marktgläubige, während in Westdeutschland noch immer ein sehr breiter Mainstream die staatlich eingehegte Marktgesellschaft nach dem Muster der alten Bundesrepublik für vollkommen alternativlos hält. Ihm erscheint die Vorstellung, dieses System könne jemals untergehen, trotz aller Krisen noch immer als absurd.
    Unmittelbar nach der politischen Wende von 1989/90 sollten sich die Deutschen aus Ost und West einer geläufigen Floskel zufolge »ihre Biografien erzählen«, um sich gegenseitig besser zu verstehen. Das hat sich schnell als Irrtum herausgestellt. Die Westdeutschen brauchten gar nicht viel zu berichten, weil die neuen Mitbürger mit ihrer Lebenswelt ohnehin recht vertraut waren. Die Ostdeutschen lernten hingegen bald die alte Tugend der Schweigsamkeit wieder schätzen, sofern sie sich bei ihren neuen Landsleuten keine Nachteile einhandeln wollten. Das galt erst recht für

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