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Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Die Deutsche - Angela Merkel und wir

Titel: Die Deutsche - Angela Merkel und wir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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ein Unfall war. Am 17. März 2011, kurz vor Mitternacht, spielte sich im New Yorker Sitzungssaal des UN-Sicherheitsrats eine denkwürdige Szene ab. Das Gremium beschloss die Resolution Nummer 1973, mit den Stimmen der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Kolumbiens, Nigerias, Gabuns, Südafrikas, Bosniens, Portugals und des Libanon. Das Dokument ermächtigte die Mitgliedstaaten, eine Flugverbotszone über Libyen einzurichten und »alle notwendigen Maßnahmen« zum Schutz der Zivilbevölkerung vor dengewaltsamen Übergriffen des Diktators Muammar al-Gaddafi zu ergreifen.
    Interessanter als die Liste der Unterstützer war allerdings, wer in jener Nacht die Hand zur Enthaltung hob und damit dem Militäreinsatz die Zustimmung verweigerte. Es waren die Vertreter Russlands, Chinas, Indiens, Brasiliens – und der Bundesrepublik Deutschland. Acht Jahre zuvor hatte Angela Merkel ihren Vorgänger Schröder harsch dafür kritisiert, dass er nicht gemeinsam mit den Vereinigten Staaten in einen Krieg gezogen war, der sich hinterher als Fehler erwies. Nun rückte sie selbst von den Verbündeten ab und verweigerte sich einem vergleichsweise überschaubaren Militäreinsatz, der im Nachhinein als Erfolg gelten sollte. Anders als ihr Vorgänger, der sich immerhin mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac einig gewesen war, wusste sie keines der westlichen Länder an ihrer Seite.
    Was war geschehen? Wurde die deutsche Regierung vom Verlauf der Ereignisse tatsächlich überrumpelt? Die Initiative war von Frankreich ausgegangen, wie zwei Jahre später bei der Intervention in Mali. Merkel und ihr Außenminister Guido Westerwelle, der zu jenem Zeitpunkt noch FDP-Vorsitzender war und die Welt aus der Perspektive spätrömischer Parteitaktik betrachtete, hatten jedoch anders kalkuliert: Sie gingen davon aus, dass US-Präsident Barack Obama diesmal die Rolle Chiracs übernehmen, sich im Sicherheitsrat enthalten und Deutschland mit seiner Skepsis nicht allein lassen würde. Entsprechende Signale aus Washington gab es, schließlich waren die Amerikaner nach dem Irak-Debakel kriegsmüde, und vitaleInteressen der Vereinigten Staaten standen in Libyen nicht auf dem Spiel. Als Verteidigungsminister Thomas de Maizière zwei Tage vor der UN-Abstimmung in Washington Gespräche führte, brachte er die Botschaft nach Hause, die Obama-Regierung werde der Flugverbotszone nicht zustimmen. Im Vertrauen darauf legte sich die deutsche Regierung vor der heimischen Öffentlichkeit auf eine Nichtteilnahme fest. Als sie kurz vor der Abstimmung erfuhr, dass sich die amerikanische Haltung geändert hatte, schien es ihr für einen Positionswechsel wohl zu spät. Das ohnehin schwierige Verhältnis Merkels zu Obama dürfte dieser Ablauf nicht verbessert haben.
    Man sollte auch den menschlichen Faktor nicht unterschätzen. Die Abstimmung in New York fand an einem Donnerstag statt. Am Freitag zuvor waren die Wellen des Tsunami über dem Atomkraftwerk in Fukushima zusammengeschwappt, was zur Kernschmelze der schwarz-gelben Energiepolitik führte. Am Tag des Reaktorunglücks hatten zudem die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel beschlossen, das Ausleihvolumen des europäischen Stabilisierungsfonds EFSF von 250 auf 440 Milliarden Euro zu erhöhen. Dieser Schritt galt Kritikern als weiterer Durchbruch zu einer »Transferunion«. Bei der für September angesetzten Bundestagsabstimmung musste Merkel in einer Weise um ihre Regierungsmehrheit fürchten, die an die Endphase der rot-grünen Regierungszeit und Gerhard Schröders Vertrauensfragen erinnerte. Zu allem Überfluss standen am übernächsten Sonntag Landtagswahlen in Baden-Württemberg an, bei denen die CDU den Verlust ihrer seit 1953behaupteten Regierungsmacht fürchten musste. Erschwerend kam hinzu, dass sich die deutsche Politik seit der Pleite der amerikanischen Lehman-Bank im Herbst 2008 ununterbrochen im Ausnahmezustand befand: Auf die Finanzkrise folgten Wahlkampf, Koalitionsstreitigkeiten, Griechenlandpleite, Rücktritt des Bundespräsidenten und Atomdebakel. Bis auf den vergleichsweise ruhigen Wahlkampf waren das allesamt Ereignisse, die in der Geschichte der Bundesrepublik ihresgleichen suchten und die Nerven aller Beteiligten entsprechend strapazierten.
    In dieser Lage rächte sich auch, dass Merkel nicht über einen vertrauenswürdigen Ressortchef im Außenministerium verfügte. Schon immer hatten sich die Kanzler die Grundlinien der

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