Die Deutsche - Angela Merkel und wir
internationalen Politik vorbehalten, allen voran Konrad Adenauer, der das Auswärtige Amt anfangs in Personalunion selbst geleitet hatte. Ebenso hatten die zuständigen Minister schon in den vorausgegangenen Regierungen an Einfluss eingebüßt, allein wegen der wachsenden Bedeutung der Europapolitik, für die das Kanzleramt und in Währungsfragen auch das Finanzministerium verantwortlich zeichnen. Neu war gleichwohl das Ausmaß des Desinteresses, mit dem der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle zunächst das Amt bekleidete, das er auf Anraten des Altvorderen Hans-Dietrich Genscher statt des Finanzressorts für seine Partei in Anspruch genommen hatte.
Schon als das schwarz-gelbe Bündnis im Oktober 2009 seine Koalitionsvereinbarung schloss, wurde das allzu forsche Amtsverständnis des außenpolitischen Novizen offenbar. Anders als Fischer hatte sich Westerwelle nichtkonzeptionell auf die Übernahme des Ressorts vorbereitet. Im Gegensatz zu den Grünen glaubte die FDP ererbte Ansprüche auf das Ressort zu besitzen, so dass programmatische Entwürfe überflüssig zu sein schienen. »Wir wollen, dass die letzten Atomwaffen, die in Deutschland noch stationiert werden, abgezogen werden«, verkündete Westerwelle bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags, ungeachtet der Tatsache, dass ein solcher Schritt sinnvollerweise auf der Grundlage internationaler Abmachungen zu erfolgen hätte. Eine sichtlich genervte Kanzlerin korrigierte ihn: »Wichtig ist mir der Begriff ›in Gesprächen mit unseren Partnern‹. Wir machen ja kein einseitiges Handeln.«
In den folgenden Monaten ließ der Bundesminister des Auswärtigen das Abrüstungsthema wieder fallen. Er konzentrierte sich stattdessen auf sein Amt als FDP-Vorsitzender und auf die innenpolitische Agenda. Seine besondere Sorge galt ungeachtet der europäischen Schuldenkrise dem Wunsch nach Steuersenkungen, die er durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Korrektur der Hartz-IV-Sätze in Gefahr sah. Wer diese auf mehr als 359 Euro monatlich erhöhe, erläuterte er Anfang 2010 in einem kleinen Gastkommentar für die Welt , der verspreche »anstrengungslosen Wohlstand« und lade zu »spätrömischer Dekadenz« ein. Erst nach seinem erzwungenen Rücktritt als Parteivorsitzender im Mai 2011 gelang es Westerwelle, sich auf sein Ressort zu konzentrieren. Trotzdem haftete seinen Äußerungen weiterhin etwas Holzschnittartiges an. Vor allem die schematische Ablehnung von Militäreinsätzen zu gleich welchen Zwecken erweckte den Eindruck, als lasse sich der Minister allein von Meinungsumfragenleiten. Das mag bei der Kanzlerin nicht anders sein. Doch wird ihr im Gegensatz zu dem Minister zugetraut, die Einsichten zu besitzen, über die sie sich dann aus wahltaktischen Gründen hinwegsetzt.
Auch wenn das Auswärtige Amt schon zuvor an Bedeutung verloren hatte, so konnte sich das Kanzleramt unter Westerwelles Vorgängern zumindest auf die Analysen des Ministeriums verlassen und Aufgaben an das zuständige Fachressort delegieren. Auf internationalem Parkett vertraten die Minister – manchmal zähneknirschend – die gemeinsam abgestimmte Linie. Bei Westerwelle konnte sich die Kanzlerin schon wegen mangelnder intellektueller Durchdringung der Materie nie sicher sein. Auf welchem Niveau Genschers Erben in der FDP Außenpolitik betrieben, demonstrierte eine Woche nach der Libyen-Entscheidung der für Entwicklungshilfe zuständige Minister Dirk Niebel. »Ist ja schon bemerkenswert, dass gerade die Nationen munter in Libyen bomben, die Öl von Libyen beziehen«, erläuterte er bei Maybritt Illner in der Talkshow die Beweggründe der westlichen Verbündeten.
Bei aller Hektik jener Tage, bei allen Problemen mit dem eigenen Außenminister muss sich die Kanzlerin das deutsche Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat gleichwohl selbst zurechnen lassen – zumal es sich in das Muster einer neuen Merkel-Doktrin einfügt. Oft wird betont, Merkel agiere wie ein lernendes System, und Fehler unterliefen ihr immer nur einmal. Das stimmt, doch fallen die Lerneffekte oft sehr drastisch aus. Dem Scheitern des Kirchhof-Experiments im Wahlkampf 2005 folgte die konsequente Verweigerung jeder systematischen Reform desSteuer- und Abgabenrechts. Nach Fukushima nahm die Kanzlerin nicht nur die selbst beschlossene Verlängerung der Atomlaufzeiten zurück, sie verkürzte die Lebensdauer der Kraftwerke sogar drastischer als von der rot-grünen Vorgängerregierung geplant. Und nachdem sie den Folgen ihrer
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