Die deutsche Seele
falschen Verräter, das mördrische Blut!« Der Text vermittelt nur eine schwache Ahnung davon, wie Bach die beiden Chöre der Matthäus-Passion rasen lässt, nachdem Jesus gefangen genommen ist.
Wenn es stimmt, dass Maßlosigkeit, Streben über alle zweckrationale Zielsetzung hinaus, ein Grundzug der deutschen Seele ist, war Bach auch in dieser Hinsicht eine ihrer reinsten Verkörperungen: Über tausend Vokal-, Orgel-, Klavier-, kammermusikalische und Orchesterwerke in Form von Kantaten, Motetten, Messen, Passionen, Chorälen, Suiten, Präludien, Fugen, Sonaten, Konzerten und Variationen hinterließ er, als er 1750 im Alter von 65 Jahren starb. »Nicht Bach! Meer sollte er heißen!« Zu diesem Huldigungsausruf ließ sich der Genius hinreißen, der die Musik ihrer nächsten Revolution unterziehen sollte.
Hatte Bachs Künstlerselbstbewusstsein sich noch von seiner demütigen Gottesfrömmigkeit Zügel anlegen lassen, trat mit Ludwig van Beethoven der erste prometheische Tonkünstler auf, der Mensch und Welt nach radikal neuem Bild formen wollte. Seine Devise: »Es gilt, dem Schicksal in den Rachen zu greifen.« Nicht, dass er die Nähe zu Gott weniger inbrünstig gesucht hätte als Bach. Nur konnte der Katholik Beethoven sie im herkömmlichen Glauben nicht mehr finden: Die Rastlosigkeit, die sein Werk vorwärtspeitscht, ist im Kern eine zornige. Musik war kein Gnadengeschenk Gottes mehr - durch sie wollte der verlassene Mensch beweisen, dass er selbst gottähnlich werden konnte. Die harmonische Ordnung empfing er nicht, indem er die Ohren gen Himmel richtete: Alles musste er aus sich selbst schöpfen. Das machte - nicht erst den ertaubenden - Beethoven zu einem zwanghafteren Tonarchitekten, als Bach je war.
Noch radikaler vollzog Beethoven die Abkehr von der Rolle, die der sakralfeudale Musikbetrieb für den Tonkünstler an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vorgesehen hatte. Zwar begann auch er als gewöhnlicher Hofmusiker in Bonn, wo er für die Konzerte in Kirche, Kammer und Theater verantwortlich war. Zwar blieb er in Wien, wo er sich endgültig als Genie des bürgerlichen Konzertsaals etablierte, bis zuletzt von adeligen Mäzenen abhängig. Die Anekdote, die eine Klavierschülerin Beethovens aus dessen frühen Jahren in der k.u.k.-Metropole überliefert hat, zeigt jedoch, wie sehr das Künstlerselbstbewusstsein gewachsen war: Auf Knien soll eine ältere Gräfin den jungen Beethoven, der in einem Sessel lümmelte, angefleht haben, für sie zu spielen - umsonst. Unvorstellbar, dass Bach einer hohen Adeligen eine ähnliche Abfuhr erteilt hätte.
Bei einem Privatkonzert, bei dem Beethoven unaufmerksame Zuhörer erleben musste, soll er seine Darbietung gar abgebrochen haben mit der Bemerkung: »Für solche Schweine spiele ich nicht.« »Papa« Haydn hätte sich eine derartige Frechheit niemals erlaubt, und selbst das anarchische »Wunderkind« Mozart hätte die unaufmerksamen »Schweine« allenfalls damit brüskiert, dass es ein schweinisches Liedchen angestimmt hätte.
Sein ideales Publikum fand Beethoven in den deutschen Dichtern und Denkern der Romantik. Johann Gottfried Herder war bereit, auch im Falle nichtgeistlicher Musik von der »heiligen Tonkunst« zu sprechen, und Ludwig Tieck erklärte: »Denn die Tonkunst ist gewiss das letzte Geheimnis des Glaubens, die Mystik, die durchaus geoffenbarte Religion.« Waren die Aufklärer darangegangen, das Sakrale zu profanisieren, machten sich die Romantiker daran, das Profane zu sakralisieren. 1799 schilderte Tiecks musikliebender Herzensbruder Wilhelm Heinrich Wackenroder in seinen Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst, wie sich sein literarisches Alter Ego Joseph Berglinger der Musik hingibt: »Wenn Joseph in einem großen Konzerte war, so setzte er sich, ohne auf die glänzende Versammlung der Zuhörer zu blicken, in einen Winkel und hörte mit eben der Andacht zu, als wenn er in der Kirche wäre - ebenso still und unbeweglich, und mit so vor sich auf den Boden sehenden Augen. Der geringste Ton entschlüpfte ihm nicht, und er war von der angespannten Aufmerksamkeit am Ende ganz schlaff und ermüdet.« Die Geburt des Klassikkonzerts aus dem Geiste des Gottesdiensts.
Woher aber bezog die Musik ihre Heiligkeit, wenn sie nicht mehr im luthersch-pietistisch-bachschen Sinne dazu diente, die Herzen für Gott zu öffnen? »Wahrlich, es ist ein unschuldiges, rührendes Vergnügen, an Tönen, an reinen Tönen sich zu freuen! Eine kindliche Freude! - Wenn
Weitere Kostenlose Bücher