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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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durfte. Bach setzte sich ans Hammerklavier und improvisierte zum allgemeinen Erstaunen eine dreistimmige Fuge. Sein Musikalisches Opfer vollendete der Komponist, indem er sich zurück in Leipzig daranmachte, eine sechsstimmige Fuge über das königliche Thema auszuarbeiten.
    Bei allen Zugeständnissen, die Bach an Kurfürsten, Könige oder die Kirche machte - letztlich diente seine Musik nur einem Herrn: Gott. Der pietistisch erzogene Luther-Leser blieb bis zu seinem Lebensende fest im Glauben: »Bei einer andächtigen Musique ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart.«
    Auch wenn Bach der erste Komponist war, der die Musik als autonomere Kunst begriff, der sie davon befreite, bloß fromme Begleitmusik (oder noch schlimmer: plätschernde Tafelmusik) zu sein - den für die deutsche Musikauffassung so entscheidenden Schritt von der Musikreligion zur Musikreligion vollzog er noch nicht. Allerdings stellte er die Weichen dazu.
    Als Bella Salomon, die Großmutter des komponierenden Geschwisterpaares Felix und Fanny Mendelssohn Bartholdy, sich in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts wieder einmal darüber erboste, dass ihre gesamte Familie dabei war, vom jüdischen zum protestantischen Glauben zu konvertieren, soll Fanny erklärt haben, dass sie in Wahrheit doch gar nicht zum Protestantismus übergetreten seien - sondern zu Bach. Dem konnte die Großmutter nichts entgegensetzen: Schließlich war sie selbst glühende Bachantin. Ihrem Enkel Felix hatte sie zu dessen 14. Geburtstag eine Abschrift der in Vergessenheit geratenen Matthäus-Passion geschenkt. Erst durch die Wiederaufführung des monumentalen Werks, die der mittlerweile 20-Jährige im März 1829 in der Berliner Sing-Akademie leitete, wurde Bach zu der deutschen Ikone, deren Aura weit über die Grenzen der musikalischen Fachwelt hinaus zu strahlen begann.
    Die gewaltige Wirkung Bachs lässt sich nur so erklären: Er war der Erste, dem es gelang, die disparaten, widersprüchlichen Strebungen der Musik zu bündeln. Mutige Melodieführung vereinte sich bei ihm mit komplexer Harmonik. Zuvor hatte in der Barockmusik das Prinzip dominiert, dass die Melodiestimme nicht mit anderen selbstständigen Stimmen verwoben, sondern von einem schlichten Generalbass begleitet wird. Stärker noch als die italienischen Renaissance-Komponisten erkannte Bach, dass »die Harmonie […] weit vollkommener [wird], wenn alle Stimmen miteinander arbeiten [und] bei einer jeden eine eigene mit den übrigen ganz wohl harmonierende Melodie anzutreffen ist«.
    Der kontrapunktische Satz, den Bach zu seinem Höhepunkt führte, war mehr als ästhetische Spielerei. Er verstand ihn als Ausdruck und Sinnbild der göttlichen Schöpfungsordnung, als »Concordia discors« - streitenden Einklang. Noch heute hoffen musikalische Geister, aus diesem Kompositionsprinzip, dem Mit- und Gegeneinander gleichberechtigter Stimmen, eine ganze Ethik ableiten zu können. So gab sich der Dirigent Daniel Barenboim 2008 in seinem Buch Klang ist Lehen dem Traum hin, dass selbst der Nahost-Konflikt zu lösen sei, »wenn die Israelis und die Palästinenser die Parallele zwischen ihrem eigenen Dialog und der Struktur einer Fuge erkennen« würden. Denn: »Wahres Anerkennen […] bedeutet, die Andersartigkeit eines Mitmenschen zu akzeptieren und seine Würde nicht zu verletzen. Dass so etwas möglich ist, wird in der Musik von kontrapunktisch aufeinander bezogenen Stimmen oder von der Vielstimmigkeit, der Polyphonie, gezeigt. Dass man die Individualität des anderen akzeptieren und ihm seine persönliche Freiheit lassen muss und kann, ist eine der wichtigsten Lehren, die wir aus der Musik zu ziehen haben.«
    Doch Bach war nicht nur der Vater einer solch waghalsigen musikalischen Diskursethik. Ihm gelang es, strengste, nachgerade mathematische Konstruktion und tiefsten Seelenausdruck zu verbinden. Seine Matthäus-Passion etwa ist in ihrer Struktur so vielschichtig, dass die Musikologen sie noch in hundert Jahren nicht vollständig analysiert haben werden. Gleichzeitig schreit hier das gequälte Menschenherz so unverstellt auf, dass man aus Stein sein muss, um sich davon nicht erweichen zu lassen. Anders als die erbsenzählerischen Meistersinger war der Meister der kontrapunktischen Ordnung jederzeit bereit, den wildesten Gefühlsausbruch zuzulassen: »Sind Blitze, sind Donner in Wolken verschwunden? / Eröffne den feurigen Abgrund, o Hölle; / Zertrümmre, verderbe, verschlinge, zerschelle / Mit plötzlicher Wut den

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