Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
Vom Netzwerk:
Gesang erfüllte diese hehre Funktion. Die gesamte weltliche Musik seiner Zeit war dem frommen Mann ein Gräuel. (Anton Reiser und weitere Glaubensbrüder setzten sich nur wenige Jahrzehnte später vehement dafür ein, das Hamburger Opernhaus, das 1678 als erste bürgerliche Institution dieser Art in Deutschland eröffnet worden war, wieder zu schließen.)
    Auch wenn er sie noch ins christliche Zwangsgewand steckte - bereits der Pietist Müller lobte an der Musik genau das, was sie den (säkularen) Musikpredigern der folgenden Jahrhunderte als höchste Form der Kunst erscheinen ließ: dass sie wie nichts anderes auf der Welt geeignet sei, »das träge Gemüt« zu ermuntern und »das kalte Herz« anzuzünden. Müllers Empfehlung, wie der Gläubige sich aufs Singen einstimmen sollte, hätte aus der Romantik stammen können: »Ach, lass die Welt mit ihrem Dreck fahren!« Diese Doppelrolle, das Gemüt zu erregen und es gleichzeitig aus allen irdischen Verstrickungen zu befreien, wird die Musik in Deutschland nicht mehr los: Der Grundstein zum Tempel der Innerlichkeit ist gelegt.
    Wie sehr es sich bei der religiösen Überhöhung von Musik um einen deutschen Sonderweg handelt, wird deutlich, blickt man nach England: Im Zuge der »Großen Revolution« schafften dort die Puritaner, die dem Pietismus sonst in vielem geistesverwandt waren, sowohl die anglikanische Liturgie als auch die Kathedralmusik ab. 1644 erließen sie ein Gesetz, die Orgeln aus den Kirchen zu entfernen und alle Chöre aufzulösen. (Erst unter Karl II. begann die englische Musik, sich von diesem puritanischen Reinigungsfeldzug langsam zu erholen.)
    Die rationale Seite der Musik erforschte Johannes Kepler in seinen Harmonices Mundi. Von Piaton und den Pythagoreern übernahm der Naturphilosoph, Astronom und Mathematiker die Auffassung, dass die musikalische Harmonie die Harmonie der Welt, der kosmischen Sphären widerspiegele und deshalb den Menschen zum Guten, Harmonischen hin beeinflussen könne, da dessen Seele aus denselben harmonischen Zahlen zusammengesetzt sei.
    Der barocke Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz war der Erste, der sich gründlicher mit der Frage beschäftigte, warum die Musik so »bequem« sei, »die Gemüter zu bewegen«. Über Kepler hinausgehend, beschrieb er die beklemmende Wirkung, die Dissonanzen auf die menschlichen Sinne ausübten, und den gesteigerten Genuss, wenn diese sich in neuerlichen Harmonien auflösten. Zwar betonte auch Leibniz den Zusammenhang zwischen kosmischer und musikalischer Ordnung. Eine moralische Funktion räumte er der Musik nicht ein. Für ihn war sie ein unbewusster Rechenspaß, »eine heimliche arithmetische Tätigkeit der Seele, die dabei nicht weiß, dass sie zählt«.
    Die Werke des ersten deutschen Musiktitanen konnte Leibniz, als er seine Definition im Jahre 1700 niederschrieb, noch nicht im Ohr gehabt haben. Zu jenem Zeitpunkt war Johann Sebastian Bach nichts weiter als ein 15-jähriger Mettensänger im Lüneburger Michaeliskloster, der mit einem Monatsgehalt von zwölf Groschen im soliden Mittelfeld der Chorknaben rangierte. Auffällig wurde Bach zum ersten Mal in Arnstadt, wo er es als 18-Jähriger zum Organisten der soeben wiedererrichteten Neuen Kirche brachte. Schon bald zitierten die Kirchenoberen den jungen Musiker zu sich, der in seinem Orgelspiel »viele wunderliche variationes gemachet, viele fremde Töne mit eingemischet« habe, so dass »die Gemeinde darüber confundiret [verwirrt] worden« sei. Der Weg bis zum gefeierten Thomaskantor und städtischen Musikdirektor in Leipzig war noch weit.
    Doch auch in jugendlichen Jahren besaß Bach genug Selbstbewusstsein, sich von derlei Vorwürfen nicht beirren zu lassen. Zwar war er wie die Komponisten vor - und viele nach - ihm »Angestellter« im Dienste adeliger und geistlicher Brotherren. Anders als Heinrich Schütz oder der von ihm so bewunderte Dieterich Buxtehude aber verstand Bach sich als Ton-Künstler, nicht -Lakai.
    Drei Jahre vor seinem Tod ließ er sich von Friedrich dem Großen zu einem seiner aberwitzigsten kontrapunktischen Bravourstücke drängen: Der Preußenkönig hatte Bach nach Potsdam gerufen, um zu sehen, ob dieser wirklich jener Alleskönner war, als den ihn die deutsche Musikwelt verehrte. Zu diesem Zweck hatte der flötenspielende König ein Thema ausgetüftelt (oder von seinem Hofmusiker, Bachs eigenem Sohn Carl Philipp Emanuel, austüfteln lassen), das so kompliziert war, dass er es für unvariierbar halten

Weitere Kostenlose Bücher