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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Philosoph hatte nicht länger die Aufgabe, den Menschen zur Vernunft und damit zur Autonomie zu erziehen. Alles, was er tun konnte, war, dem Menschen klarzumachen, dass er nicht der souveräne Steuermann seines Geschicks war, für den er sich hielt, sondern lediglich das ohnmächtige Organ, dessen sich der Wille nach Lust und Laune bediente. Die einzige Aussicht auf Glück, auf Seelenfrieden, bestand darin, dem Willen ein Schnippchen zu schlagen, indem man ihn verneinte.
    Nun meinte Schopenhauer damit keine kollektive Aufforderung zum Selbstmord. Höchste Lebensklugheit hatte erlangt, wer erkannt hatte, dass die Welt als erhabenes Schauspiel zu betrachten sei, von dem man sich mitreißen ließ, ohne dass es einem wirklich die Eingeweide zerwühlte. Besser als dem ewig doch vernunftverhafteten Philosophen gelang dem Musiker das Kunststück, sich dem Weltwillen rückhaltlos hinzugeben und diesen gleichzeitig »auf das Gebiet der bloßen Vorstellung« hinüberzuspielen. »Der Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und spricht die tiefste Weisheit aus, in einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht; wie eine magische Somnambule Aufschlüsse gibt über Dinge, von denen sie wachend keinen Begriff hat.« In dieselbe Trance vermochte der Komponist den Zuhörer zu versetzen, indem er ihn verschiedensten Gemütserregungen unterwarf, die allerdings nicht länger die Freude oder das Entsetzen über etwas Bestimmtes waren, sondern die Freude als solche, das Entsetzen. »Nur so verursacht die Musik uns nie wirkliches Leiden, sondern bleibt auch in ihren schmerzlichsten Akkorden noch erfreulich, und wir vernehmen gern in ihrer Sprache die geheime Geschichte unsers Willens und aller seiner Regungen und Strebungen, mit ihren mannigfaltigen Verzögerungen, Hemmnissen und Qualen, selbst noch in den wehmütigsten Melodien. Wo hingegen, in der Wirklichkeit und ihren Schrecken, unser Wille selbst das so Erregte und Gequälte ist.«
    Das Ansinnen, mit Musik Politik, gar nationale Politik zu betreiben, hätte Schopenhauer - der nie eine Wagner-Oper gehört haben dürfte - für Missbrauch gehalten. Zwar traute er der Musik zu, eine zweite, erträglichere Welt zu schaffen - aber nur, solange sie ein ganz und gar selbstständiges Reich blieb, fernab von allen außermusikalischen Ambitionen. Schopenhauer überhöhte die Musik metaphysisch, nicht politisch. Nirgends mutete der Philosoph - der im Mitleid das einzige Gegengift sah, das die Menschheit daran hindern konnte, sich gegenseitig zu quälen und zu meucheln - der Musik eine gesellschaftskritische oder gar -verbessernde Funktion zu. Diese Zurückhaltung sollte die deutsche Musikphilosophie im 20. Jahrhundert abermals verlernen.
    »Der uralte Einspruch der Musik versprach: ohne Angst leben.«
     
    Theodor W. Adorno war der Philosoph, der nach Arthur Schopenhauer wie kein zweiter in der Musik die letzte Rettungsbastion des zum Elend verdammten Menschen sah. Auch Adorno war Vernunftskeptiker. Anders als Schopenhauer wollte er jedoch nicht die Vernunft als solche verabschieden. Vielmehr ging es ihm darum, sie aus jener dialektischen Fehlentwicklung zu retten, die bereits in der Antike begonnen und im Spätkapitalismus ihren unseligen Höhepunkt erreicht habe: dass der Mensch seine Ratio zwar erfolgreich dazu eingesetzt habe, sich aus den ursprünglichen Naturzwängen zu befreien, sich damit aber von der lebendigen Welt verdinglichend entfernt und einem umso brutaleren gesellschaftlichen Zwangssystem ausgeliefert habe. Am emanzipatorischen Ideal hielt der Kopf der Frankfurter Schule fest. Wie seine (neo-marxistischen) Mitstreiter war er nur überzeugt davon, dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft nicht die freie Assoziation von Individuen war, als welche ihre Anhänger sie feierten. Die gesamte kritische Theorie trat mit dem Anspruch auf, den Weg aus dem »Verblendungszusammenhang« hin zu einer wahrhaft freien Gesellschaft zu weisen, in der der Einzelne seine Individualität erst wirklich behaupten und sich jenseits des Warenverkehrs mit seinen Mitmenschen tatsächlich austauschen konnte.
    Denselben utopischen Impetus unterstellte Adorno, der Musiker unter den kritischen Theoretikern, der Kunst. Sie allein sei »Statthalter unbeschädigten Lebens mitten im beschädigten, welches das Subjekt zur Ideologie herrichtete«. Die ästhetische Form sei humaner, ziviler als alle bisherigen Gesellschaftsformen, denn jene realisiere, woran diese hartnäckig scheiterten: »Die

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