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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Menschheit gegen den Mythos«, den Adorno in den frühen fünfziger Jahren in ihm erkennen wollte? Oder steht es nicht vielmehr selbst mit dem Mythos im Bunde? Vermögen die explosiven Klänge, die Schönberg komponiert hat, tatsächlich etwas über jenes Leid zu erzählen, das dem jüdischen Volk im Holocaust angetan wurde? Würde ein Zuhörer, der die deklamierten Worte weder kennt noch versteht, nicht mit demselben Recht glauben können, einer pathetisch aufpeitschenden Musik zu lauschen, der Beethovenschen Sinfonie eng verwandt? Verdankt auch das späte Werk Schönbergs seinen kritischen, der Humanität verpflichteten Geist am Ende nicht doch in erster Linie dem Text - während die Musik als solche so »abstrakt und mystisch« bleibt, wie Thomas Mann sie im Ganzen charakterisiert hat?
    Schönberg war tödlich beleidigt, dass der deutsche Literaturnobelpreisträger in seinem Doktor Faustus den »Tonsetzer« Adrian Leverkühn - der bereit ist, all seine Fähigkeit zu »warmer Liebe«, all seine Empathie zum Teufel gehen zu lassen, auf dass dieser ihm revolutionäres musikalisches Genie einflöße - ausgerechnet die Zwölftontechnik entwickeln ließ. Aber spürte Mann nicht etwas Richtiges? Dass die Musik, ganz gleich wie reflektiert sie in ihrer Expressivität wird, im Kern eine »kalte« Kunst bleibt, weil sie gar nicht anders kann, als menschlichen Schmerz in ihre distante, autonome Sphäre zu entrücken?
    »Es gibt jetzt Stunden, wo ich eine einzige Sehnsucht habe, das Ende zu empfangen und alles Menschliche aufzugeben, einzugehen in das Einzige, Vollendete.«
     
    Im September 2001 war der Komponist Karlheinz Stockhausen Gast beim Hamburger Musikfest. Die Pressekonferenz, in der es um die beiden konzertanten Aufführungen von Teilen seines monumentalen siebenteiligen Opernzyklus Licht gehen sollte, geriet zum Skandal. Der dämonische Musiker, vor dem Thomas Mann unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gewarnt hatte, erhob ein gutes halbes Jahrhundert später, mitten im demokratisch brav gewordenen Deutschland, erneut sein Haupt. Um die eigentliche Dimension des Skandals zu begreifen, ist es nötig, sich die inkriminierten Äußerungen Stockhausens genauer anzusehen.
    Die abschüssige Bahn begann, als der Erfinder der elektronischen Avantgarde-Musik - der in zahlreichen anderen Interviews behauptet hatte, auf dem Planeten Sirius ausgebildet worden zu sein - anfing, von seinen Engelsvisionen zu reden: »Ich bete jeden Tag zu Michael, aber nicht zu Luzifer. Also das habe ich mir versagt. Aber der ist sehr präsent, also in New York zur Zeit. Doch.« Der sichtlich irritierte Moderator versuchte, das Gespräch in sicherere Gewässer zurück zu navigieren, indem er Stockhausen auf dessen Notizen zur harmonischen Menschlichkeit ansprach, die dieser seinem Werk Hymnen aus den sechziger Jahren zur Seite gestellt hatte. Im Anschluss daran wollte er wissen, in welcher Weise die Ereignisse der letzten Tage - gemeint waren die islamistischen Terroranschläge vom 11. September - den Komponisten berühren würden. Stockhausen dachte kurz nach, bevor er zu einer langen Antwort ansetzte: »Also was da geschehen ist, ist natürlich - jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen - das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat. Dass also Geister in einem Akt etwas vollbringen, was wir in der Musik nie träumen könnten, dass Leute zehn Jahre üben wie verrückt, total fanatisch, für ein Konzert. Und dann sterben. - Und das ist das größte Kunstwerk, das es überhaupt gibt für den ganzen Kosmos. Stellen Sie sich das doch vor, was da passiert ist. Das sind also Leute, die sind so konzentriert auf dieses Eine, auf die eine Aufführung, und dann werden fünftausend Leute in die Auferstehung gejagt. In einem Moment. Das könnte ich nicht. Dagegen sind wir gar nichts, also als Komponisten. Ich meine, es kann sein, dass, wenn ich Freitag aus Licht aufführe, dass da ein paar Leute im Saal sitzen, denen das passiert, was ein alter Mann mir vorige Woche gesagt hat, beim Samstag nach der Aufführung: >Na, sagen Sie mal: Zweieinhalb Stunden, da waren doch diese unglaublich tiefen Klänge, die wie Wolken über uns schwebten und sich bewegten die ganze Zeit, […] was ist denn das für ein Orchester?< Ich sage: >Gar keins.< Sagt er: >Was? Wie haben Sie’s denn gemacht? Sie müssen das doch irgendwie machen! Wer spielt das? Wer hat das gesungen oder gespielt?< Ich sage: >Niemand.< >Ja, wie denn?< Ich sage: >Mit Generatoren und Synthesizern.<

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