Die deutsche Seele
Adorno einwenden, dass es der Schönbergschen Musik nichts von ihrer revolutionär-emanzipatorischen Kraft nimmt, nur weil ihr Schöpfer in seinen politischen Ansichten nationalfeudal dachte. Auch die Musik Wagners wird in ihrer Substanz nicht ziviler, nur weil dieser sich in seinen politischen Kampfschriften volksnah gab und die Verachtung des »Pöbels« für eine arrogante Dummheit hielt.
Aber führte die Schönbergsche Kompositionsweise, seine Zwölftonmethode zumal, tatsächlich zu der ganz anderen, »neuen« Musik, die alles Totalitäre in sich überwunden hatte und die Menschheit zu wahrhaft freien Ufern führte? Schönberg selbst hätte diese Frage mit einem ärgerlichen Kopfschütteln abgewehrt. Die Adornoschen Anstrengungen, ihn zum komponierenden Arm der Frankfurter Schule zu stilisieren, waren ihm zeitlebens auf den Nerv gegangen. So sehr er kritisch kommentierend an den Entwicklungen und Verirrungen seiner Zeit Anteil nahm - er selbst wollte reiner Künstler sein. Die Tonalität hatte er nicht deshalb zur freien Tonalität und schließlich Atonalität gelockert, um damit die gesellschaftliche Anerkennung des »Nicht-Identischen«, des »Ausgeschlossenen« zu fordern. Sein kompositorisches Tun war ihm schlicht als musikhistorisch zwingender Entwicklungsschritt erschienen. So wie es ihm zwingend erschien, nachdem er die klassische Ordnung vernichtet hatte, mit der Zwölftonmusik ein neues musikalisches Ordnungsprinzip zu begründen. Der Gedanke - vereinfachend gesagt -, dass jeder der zwölf Töne, aus denen die abendländische Tonleiter besteht, erst dann wieder erklingen darf, sobald alle anderen erklungen sind, war keine Gerechtigkeitstheorie. Und man darf dem Komponisten dankbar sein, dass er seine Zwölftonmethode nicht zum Gesellschaftsprinzip überhöhte: Selbst Adorno musste in seinem letzten Lebensjahrzehnt einräumen, dass der serielle Gedanke - spätestens als ihn Schönberg-Nachfolger auf alle musikalischen Parameter wie Tondauer und Lautstärke ausdehnten - zu einem so unbarmherzig starren Ordnungssystem führte, dass sich im Vergleich dazu die klassische Sonatenhauptsatzform als anarchische Spielwiese ausnimmt.
Sollte Schönberg sich überhaupt in der Nachbarschaft zu irgendeiner außermusikalischen Disziplin gewähnt habe, waren es weder die kritische Philosophie noch Soziologie, sondern allenfalls die Naturwissenschaften. So wie Albert Einstein die Welt der Physik mit seiner Relativitätstheorie umgestürzt hatte, wollte er die Welt der Musik revolutionieren, indem er das erschütterte, was jahrhundertelang ihr sicherstes Fundament gewesen zu sein schien: dass sie sich linear in einem zeitlichen Kontinuum bewegte. Schönberg wollte ein neues musikalisches Raum-Zeit-Verständnis schaffen, indem »jede Bewegung von Tönen […] in erster Linie als ein wechselseitiges Verhältnis von Klängen, oszillierenden Schwingungen aufgefasst werden muss, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten auftreten«.
Obwohl Schönberg eine komplexe Harmonielehre veröffentliche und ein akribischer Kompositionslehrer war, hatte er stets das Triebhafte am musikalischen Schaffensprozess betont: »Das Bewusstsein hat wenig Einfluss darauf. Er [der Künstler] hat das Gefühl, als wäre ihm diktiert, was er tut. Als täte er es nur nach dem Willen irgendeiner Macht in ihm, deren Gesetze er nicht kennt. Er ist nur der Ausführende eines ihm verborgenen Willens, des Instinkts, des Unbewussten in ihm. Ob es neu oder alt, gut oder schlecht, schön oder hässlich ist, er weiß es nicht. Er fühlt nur den Trieb, dem er gehorchen muss.« Dieses Zitat aus seiner Harmonielehre ist eindeutig näher an Schopenhauer (und Sigmund Freud) als an Adorno, der dennoch unbeirrt auf dem vermeintlich hochreflexiven Charakter der Schönbergschen Musik - gegen die »unwahre«, die bloß überwältigen will - beharrte: »Sein Pathos gilt einer Musik, deren der Geist sich nicht zu schämen brauchte und die damit den herrschenden beschämt. Seine Musik will mündig werden an ihren beiden Polen: Sie setzt das bedrohlich Triebhafte frei, das sonst Musik nur filtriert und harmonistisch gefälscht durchlässt; und spannt die geistige Energie aufs Äußerste an; das Prinzip eines Ichs, das stark genug wäre, den Trieb nicht zu verleugnen.«
So unsinnlich, so »verkopft« die Musik Schönbergs auch heute noch auf manchen Zuhörer wirkt: Der Komponist selbst sah sich in der Tradition des Genies, das unbewusst aus dem Vollen schöpft.
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