Die deutsche Seele
schrieb Stockhausen: »Es gibt jetzt Stunden, wo ich eine einzige Sehnsucht habe, das Ende zu empfangen und alles Menschliche aufzugeben, einzugehen in das Einzige, Vollendete.«
Wie Schönberg ging es ihm um ein gänzlich neues Raum-Zeit-Verständnis, indem er Werke schuf, in denen er in zehn Sekunden zweihundert und mehr Töne als »Schwarm« vorbeirauschen ließ. Wie Adorno rang er mit der Frage, wie kritische Subjektivität sich erhalten und dennoch in der Musik aufgehen könne. In einem Radiogespräch über die »Widerstände gegen die sogenannte Neue Musik«, das der Frankfurter Philosoph mit dem jungen Komponisten im Jahre 1960 führte, beharrte Stockhausen darauf, dass Musik »eine Angelegenheit des Geistes« sei, weil sie den Zuhörer zwischen »ganz bei sich und ganz außer sich Sein« oszillieren lasse. Wer Musik »intellektuell« durchdringen wolle, habe jedoch nichts verstanden. Der musikalische Geist spricht nur zu demjenigen, der bereit ist, sich durchdringen zu lassen. Und wenn er dabei riskiert, »in die Auferstehung gejagt« zu werden.
Noch immer verlangt es die Menschen - auch in der Bundesrepublik - nach Seelentrost. Deshalb besuchen sie nicht nur Yoga- und Meditationskurse oder gehen ganz traditionell in die Kirche, sondern strömen nach wie vor in die Konzertsäle und Opernhäuser, um deutsche Innerlichkeit in ihrer höchsten Ausprägung zu zelebrieren. Der radikal gemeinte, im Kern religiöse Begriff einer »Kulturnation«, die den Menschen zu bessern glaubte, indem sie die gesamte Sphäre des Weltlich-Politischen als »Dreck« entlarvte, ist jedoch zum Feiertags-Schlagwort herabgesunken. Erlösung light muss genügen. Die deutsche Musik, deren »mächtigen Sonnenlauf« der junge Nietzsche beschwor, ist im Westen untergegangen. Der Demokrat atmet erleichtert auf. Der Musiker leidet.
>Abgrund, Doktor Faust, E(rnst) und U(nterhalting), Feierabend, Kulturnation, Männerchor, Ordnungsliebe, Puppenhaus, Querdenker, Reinheitsgebot, Sehnsucht
Mutterkreuz
Lange bevor die Nationalsozialisten der deutschen Mutter einen Gebär-Orden um den Hals hängten, rief Martin Luther die deutsche Frau dazu auf, das Mutterkreuz auf sich zu nehmen, denn: »Ein Weibsbild ist nicht geschaffen, Jungfrau zu sein, sondern Kinder zu tragen.«
Der Reformator - selbst ein unermüdlicher Schreiber und Prediger - war davon überzeugt, dass Gottes Gnade sich nicht durch eigenes Tun erwirtschaften lässt. Dennoch zeichnete er einen Tätigkeitsbereich vor allen anderen aus, mit dem man und frau sich zumindest als Gnadenkandidaten empfehlen können: Kinder zeugen, austragen, gebären und erziehen. »Es ist nichts mit Wallfahrten gen Rom, gen Jerusalem, zu Sankt Jakob. Es ist nichts Kirchen bauen, Messen stiften oder was für Werk genannt werden mögen, gegen dieses einzige Werk, dass die Ehelichen ihre Kinder ziehen, denn dasselbe ist ihre gerichtste Straß gen Himmel, können auch den Himmel nicht näher und besser erlangen denn mit diesem Werk.«
Luthers Gattin, die aus dem Kloster entflohene ehemalige Nonne Katharina von Bora, mit der der ehemalige Mönch im reiferen Alter noch sechs Kinder hatte, hätte demnach bessere Aussichten aufs ewige Seelenheil als eine Hildegard von Bingen, die auf Mutterschaft verzichtete und stattdessen bis zu ihrem Lebensende im Kloster betete, forschte und schrieb. Während der Geburt zu sterben, sei die größte Gnade, die einer Frau widerfahren könne, weshalb ihr Gatte nicht versuchen solle, die Unglückliche zu retten, sondern sie ermahnen: »Gedenk […] dass du ein Weib bist, und dies Werk Gott an dir gefället, tröste dich seines Willens fröhlich und lass ihm sein Recht an dir. Gib das Kind her und tu dazu mit aller Macht. Stirbst du darüber, so fahr hin, wohl dir, denn du stirbest eigentlich im edlen Werk und Gehorsam Gottes. Ja, wenn du nicht ein Weib wärest, so solltest du jetzt allein um dieses Werks willen wünschen, dass du ein Weib wärest, und so köstlich in Gottes Werk und Willen Not leiden und sterben.«
Selten hat sich männlicher Gebärneid mit tieferer religiöser Inbrunst ausgedrückt. Doch der Mann ist nicht dazu verdammt, tatenlos danebenzustehen, während die Mutter seiner Kinder so köstlich Not leidet und stirbt. Luther war ein radikaler Vorprediger all derjenigen, die in Deutschland fünfhundert Jahre später als »neue Väter« gepriesen werden sollten: »Wenn ein Mann hinginge und wüsche die Windel oder tat sonst am Kinde ein verächtlich [d. h.
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