Die deutsche Seele
Sagt er: >Was? Dann brauchen wir ja gar kein Orchester mehr!< Ich sage: >Nein.< Dann lief der raus, als ob der innerlich, im Geiste gestorben wäre. Ich weiß nicht, was jetzt passiert mit dem. […] Das war eine Explosion wie für die Menschen in New York. Bumm! Und ich weiß nicht, ob die jetzt woanders sind, die da plötzlich so schockiert waren. Also es gibt Dinge, die gehen in meinem Kopf vor sich durch solche Erlebnisse. Ich habe Wörter benutzt, die ich nie benutze, weil das so ungeheuer ist. Das ist das größte Kunstwerk überhaupt, das passiert. Stellen Sie sich mal vor, ich könnte jetzt ein Kunstwerk schaffen, und Sie wären alle nicht nur erstaunt, sondern Sie würden auf der Stelle umfallen. Sie wären tot und würden wiedergeboren, weil Sie Ihr Bewusstsein verlieren, weil das einfach zu wahnsinnig ist. Manche Künstler versuchen doch, über die Grenze des überhaupt Denkbaren und Möglichen zu gehen, damit wir wach werden, damit wir für eine andere Welt uns öffnen. Also ich weiß nicht, ob das fünftausend Wiedergeburten gibt, aber irgend so etwas. - Im Nu. Das ist unglaublich.«
Der Komponist, der von sich sagte, dass er manches, was er schreibe, selbst nicht verstehe, spürte, dass er die Demarkationslinie des politisch Korrekten überschritten hatte. Noch während der Pressekonferenz versuchte er, seine radikalen Thesen zu relativieren, indem er einräumte, dass es zwischen einem Verbrechen und einem Kunstwerk natürlich einen Unterschied gebe: »Der Verbrecher ist es deshalb, das wissen Sie ja, weil die Menschen nicht einverstanden waren. Die sind nicht in das Konzert gekommen. Das ist klar. Und es hat ihnen auch niemand angekündigt: >Ihr könntet dabei draufgehen.< Ich auch nicht. Also es ist in der Kunst nicht so schlimm. Aber was geistig geschehen ist, dieser Sprung aus der Sicherheit, aus dem Selbstverständlichen, aus dem Leben, das passiert ja manchmal, so poco a poco auch in der Kunst, oder sie ist nichts. - Sie sind alle ganz ernst auf einmal. Wo hat er mich hingebracht - Luzifer …« Und in einem Anflug störrischer Verzweiflung fragte er den Moderator: »Sind Sie denn Musiker? Selbst Musiker?«
Die öffentliche Entschuldigung, die der Komponist am folgenden Morgen nachreichte, vermochte die Situation nicht mehr zu entspannen: Die Hansestadt sagte die beiden geplanten Stockhausen-Konzerte ab. Bis zu seinem Tod im Dezember 2007 blieb der Komponist in Deutschland eine Unperson.
Worin bestand Stockhausens Vergehen genau? Er hatte es gewagt, in einer vorsichtig gewordenen Zeit das ungeschützt auszusprechen, was alle großen deutschen Musiker und Musiktheoretiker vor ihm gedacht hatten. Wie Kepler und Leibniz war er überzeugt, dass Musik kosmischer Einklang ist, auch wenn dieser bei ihm nichts mehr mit dem klassischen Dreiklang zu tun hatte. Zu Beginn der Hamburger Pressekonferenz hatte er erklärt: »Wenn ich also etwas durch Musik erlebbar machen könnte, was im Universum stimmt, dann bin ich Meister […] Ich bin überrascht, wie viele Parallelen es in meinen Werken - in zunehmendem Maße übrigens - gibt zu dem, was ich lerne, wenn ich also ein Buch mit den Aufnahmen vom Hubble-Teleskop sehe.«
Wie Bach und die Pietisten glaubte er daran, dass Musik Gottesdienst ist. In einem Brief an einen belgischen Komponistenfreund bekannte Stockhausen in den frühen fünfziger Jahren: »Denn das, was ich da tue, ist so sehr etwas, was außer mir entsteht und sich selbst aufgegeben hat - als wollte es nur erfüllt sein -, ohne mich, ohne einen Menschen zu befragen. Ich werde warten und Gott bitten, dass er mich leitet und still sein lässt.«
Wie Beethoven und die Romantiker träumte Stockhausen davon, die Seelen seiner Zuhörer zu entführen: »Im Gesang der Jünglinge [einem frühen Werk für Knabenstimmen und Syntheziser] ist eine Einheit von elektronischen - also synthetischen Klängen - und gesungenen - also >natürlichen< - Tönen erreicht: Eine organische Einheit, die noch vor drei Jahren als ferne Utopie erschien. Sie bestärkt den festen Glauben an eine reine, lebendige Musik, die wieder unmittelbar den Weg zum Hörer finden wird. Und welcher Musiker wäre nicht glücklich bei dem Gedanken, dass er es vielleicht erlebt, wie die musikalische Sprache sich von allen Schlacken gereinigt hat und wie sie den, der zuhört, in eine neue musikalische Welt mitnimmt.«
Wie Wagner und Schopenhauer sehnte er sich nach dem großen Nichts. In einem anderen Brief an den belgischen Komponisten
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