Die deutsche Seele
nachdem er einmal beschlossen hatte, dass sie zur distanzierenden Geistestätigkeit unfähig seien. Doch theoretisch hätte er den Frauen, die angeblich selbst bis zum Hals noch in Mutter Erde steckten, denselben Ehrenplatz einräumen können wie dem Mitleid, das die schmerzliche Trennung von Mensch und Mensch überwinde, oder der Musik, der es gleichfalls gelingen solle, das abgekapselte Individuum wieder mit der Weltsubstanz zu versöhnen.
Die Idee, dass Mütter die letzten Hüterinnen der Ursuppe seien, wurde umso mächtiger, je weiter und schneller sich die Zivilisation von den ursprünglichen Feuerstellen der Menschheit entfernte. Die österreichische Schriftstellerin Bertha Eckstein-Diener machte sich in den späten 1920er Jahren daran, die erste »weibliche Kulturgeschichte« zu schreiben. (Vor ihr hatten sich nur Männer wie der Schweizer Rechtshistoriker und Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen systematisch mit der Geschichte weiblicher Herrschaftsformen auseinandergesetzt - jener allerdings mit dem festen Ziel, das Patriarchat als Gipfel der Menschheitsentwicklung zu begründen.) Unter ihrem Pseudonym »Sir Galahad« erzählte Eckstein-Diener von untergegangenen Matriarchaten und Amazonenreichen, um im Nachwort klarzustellen, dass eine neue mütterliche Herrschaftsform zwar dringend benötigt werde - aber nirgends in Sicht sei: »Zu etwas wie dem alten orthodoxen Mutterrecht braucht es nämlich >Mütter<. Dieser Typus, halb schicksalhafte Göttin, halb erdhafte Schafferin, breit hockend und verwurzelt, ist erloschen oder im Erlöschen begriffen. Er wäre auch in einer nickelblanken Zivilisationsphase aus Zweck und Zahl, wie der unsern, fehl am Ort. Gerade der Mann aber, mag er noch so gegen jede juristisch festgelegte Gynaikokratie bocken, ist es, der heimlich geradezu lechzt nach einer übermächtigen Weibsubstanz - keineswegs erotisch, bewahre, sondern einfach, um durch sie der Perennisierung des Lausbuben in sich teilhaftig zu bleiben […] Irgendetwas soll es in Reserve geben, das ihn, wenn nötig, einfach an den Ohren nimmt, aus der Bredouille zieht und zum Trocknen hinsetzt: radikal, endgültig, ohne viel zu reden.«
Pestalozzi hätte das »Weltweib« Eckstein-Diener, die ihre beiden Söhne, die sie von verschiedenen Männern hatte, entweder beim Vater oder einer Pflegefamilie abgegeben hatte, um durch die Welt zu reisen und Bücher zu schreiben, gewiss übers Knie gelegt. Und doch klingt ihr Porträt des Lausbuben, der in erwachsenen Jahren noch die Mutti brauchte, die ihn an beiden Ohren aus der Bredouille zieht, wie ein sarkastisches Echo auf Pestalozzis Hauptwerk Lienhard und Gertrud, in welchem die ebenso resolute wie mütterliche Gertrud ihren Schoß nicht nur der Kinderschar zum Ausweinen darbietet, sondern ebenso dem versoffenen und spielsüchtigen Gatten, wenn dieser erkennen muss, was für ein Nichtsnutz er ist.
Im Kaiserreich hofften auch explizite Feministinnen darauf, dass am mütterlichen Wesen die Welt genesen möge. Helene Stöcker, die 1904 den »Bund für Mutterschutz« mitgegründet hatte, kämpfte zwar für Geburtenkontrolle, das Recht auf Abtreibung und die sexuelle Emanzipation der Frau. Gleichzeitig träumte sie davon, dass, sobald die neue Mütterlichkeit herrsche, »die Gefängnismauern fallen, die Kerker von Licht durchflutet werden und der Schatten des Schafotts aufhören wird, die Erde zu schänden. Armut und Verbrechen werden kinderlos sein, die ganze Welt wird intelligent, tugendhaft und frei sein.« Anders als Pestalozzi glaubte Stöcker jedoch nicht daran, dass es etwas brächte, in den modernen Frauen die verschütteten Instinkte hervorzulocken, um gute Mütter aus ihnen zu machen. Ihre pädagogischen Bemühungen gingen nicht in Richtung eines vermeintlich besseren Naturzustands, sondern zielten darauf, die Gattung zu veredeln: »Wie der Mensch alle anderen Dinge seiner vernünftigen Einsicht unterworfen hat, so muss er auch immer mehr Herr werden über eine der wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit, die Schaffung eines neuen Menschen.« Die Pazifistin und strikte Kapitalismusgegnerin, die zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution in die UdSSR reiste und später von den Nazis in Exil gejagt wurde, schreckte im Rahmen ihres Fortschrittglaubens auch nicht vor der Forderung zurück, dass man Mittel finden müsse, »um unheilbar Kranke oder Entartete an der Fortpflanzung zu hindern«.
Frei von eugenischen Anwandlungen, aber nicht weniger erziehungseuphorisch
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