Die deutsche Seele
Mystik brauchte nicht nur Sprecher und Fürsprecher, sondern auch mitschwingende Orte. Diese verteilten sich über das gesamte Reich.
Görlitz ist heute die östlichste Stadt Deutschlands. Einst lag es irgendwo in der Mitte des Deutschen Reiches. In Görlitz, wer würde das heute noch annehmen, verbrachte auch ein Denker die meiste Zeit seines Lebens, »der erste deutsche Philosoph«, wie Hegel ihn nannte, denn er hatte in dessen Werk Spuren von Dialektik ausgemacht. Die Rede ist von Jakob Böhme (1575-1624), mit dem die Mystik neue Dimensionen erreicht. Von Beruf war er Schuhmacher, er hat nie studiert. Sein Werk bezieht sich auf den Pantheismus eines Nikolaus von Kues, die naturphilosophische Lehre des Paracelsus und die Mystik des Agrippa von Nettesheim, die wiederum auf Neuplatonismus und Kabbala zurückgeht.
Ausgangspunkt war die Unzufriedenheit mit Luthers Reformen, man strebte ein Christentum ohne Kirche an. Böhme zitiert nicht und nennt auch keine Vorbilder, obwohl er behauptet, vieles gelesen zu haben. Als wahre Lehrmeisterin bezeichnet er die »ganze Natura«. Mit dem Auftritt der »Rosenkreuzer«, einer Geheimgesellschaft, die sich auch für Böhme interessiert, erhält die Mystik eine okkulte Akzentuierung. Christliche Ethik verbindet sich mit dem barocken Zeichensystem des Aichemistischen.
Hildegard von Bingen, Klostergründerin und Schriftstellerin im 12. Jahrhundert. Mit ihr beginnt die deutsche Mystik.
Und damit gelangen wir nach Prag. Die Hauptstadt Tschechiens lag im 17. Jahrhundert im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. In Prag wurde 1348 die erste Universität des Alten Reichs gegründet. In der Amtszeit des Habsburger Exzentrikers Rudolf II. (1552-1612) wurde die Stadt aber auch zum Wesensort von Alchemie, Astrologie und Mystik. Tycho Brahe und Johannes Kepler gingen hier ihren Studien und Spekulationen nach.
Die Mystik zieht eine unauffällige Spur durch die gesamte deutsche Kulturgeschichte. Ihre Übereinstimmung mit den aktuellen Parolen der jeweiligen Zeit ist jedes Mal zufällig, aber auch in praktisch jedem Fall erklärbar.
Zu den Orten, an denen die Mystiker anzutreffen sind, gehören: das Kloster, die Werkstatt des Handwerkers, der dekadente Königs- und Kaiserhof und die religiöse Bewegung. Es wirken die Nonne, die ihre Gebete ins Literarische wendet; der Schuhmachermeister, der frei philosophiert, ohne die Begriffe zu kennen; der melancholische Herrscher, der sich mit Alchemisten umgibt; und der Pietist, der, wie Philipp Jacob Spener, der Frömmigkeit verpflichtet - ausgehend von seiner Kritik an der Erstarrung des Protestantismus - ein weiteres Mal für die Rückkehr zur Heiligen Schrift plädiert.
Damit ist sicherlich vor allem die Rückkehr zur Bibelauslegung gemeint, die Wendung ins Okkulte, ins Hermetische. Es geht aber auch um die Infragestellung der von der Kirche mitgetragenen Staats- und Weltordnung. Der Angriff auf den Absolutismus gehört bei Weitem nicht allein der Aufklärung. Das liegt, beginnend mit dem 17. Jahrhundert und vor allem im 18. Jahrhundert, auf der Hand: Nicht nur Pietismus und Aufklärung vertragen sich, mit der Freimaurerei bildet sich sogar eine neue Form der Geheimgesellschaft heraus, die alles unter einem Dach zu vereinen vermag, vom Humanismus bis zur Esoterik.
Jakob Böhme (1575-1624), der Schuhmacher, Mystiker und Philosoph, der den Pietismus beeinflusste.
Die deutsche Gesellschaft hat heute keine gültige Mystik mehr aufzuweisen. Dafür importiert sie in auffallender Größenordnung die esoterischen Angebote aus aller Welt. Exotisch haben sie zu sein, und schamanisch.
Warum der Buddha, könnte man fragen, und nicht Eckhart? Weil wir Kant und Hegel nachgerannt sind und alles andere vergessen haben? Oder, schlimmer noch, es bloß politisch betrachten? Eine Kultur kann nur als Ganzes wirken. Wird etwas aus ihrem Körper entfernt, so wird es, auch wenn es nebensächlich erscheint, dem Ganzen fehlen.
>- Arbeitswut, Doktor Faust, Reformation
Narrenfreiheit
Der Xaver Deschle ist’s wohl gewesen, der wegen seiner Kappe in ganz Radolfzell nur der »Kappedeschle« genannt wurde. Als nun die Preußenbesatzung - es war kurz nach dem Scheitern der 1848er Revolution - die Fastnacht verbot, lief der Kappedeschle zum Kommandanten und bat, wenigstens maskiert durchs Fenster blicken zu dürfen. Es wurde ihm erlaubt, und so hängte sich der Kappedeschle einen selbst gezimmerten Fensterrahmen um den Hals und sprang mit seiner
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