Die deutsche Seele
eigener Kraft reinwaschen. Als Erkenntnistheoretiker stört Hamann an der »reinen« Vernunft ihre »mystische Neigung zu einer leeren Form«. Er unterstellt ihr gar die Nähe zum »Formenspiel einer alten Baubo mit ihr selbst«. Will sagen: Er vergleicht den Bewohner der selig-reinen Verstandesinsel mit jener Gestalt der griechischen Mythologie, die einst versucht haben soll, die trauernde Demeter aufzuheitern, indem sie sich das Schamhaar abrasierte und vor den Augen der Fruchtbarkeitsgöttin lustige Spiele mit ihrem Unterleib trieb …
Der selbst ernannte »Spermologe« (»Samenschwätzer«) Hamann hingegen besteht darauf, dass Leib und Schmutz der Ursprung des Menschen sind, die nicht verleugnet werden dürfen. Triftige Erkenntnis und triftiges Leben gebe es nur dort, wo Sinnlichkeit und Verstand in »natürlicher Ehe« beisammen sind und weder »Buhlschaft« noch »Notzucht« noch »Selbstbefriedigung« noch »Zölibat« sie künstlich entzweien.
An der vertrackten Frage, ob und wie Reinheit und Geschlechtlichkeit zusammengehen können, laborierte ein anderer deutscher Genius sein Leben und Schaffen lang: der Komponist Richard Wagner. In seiner romantischen Oper Tannhäuser opfert sich die heilige Elisabeth von Thüringen für den verworfenen Ritterwüstling, der seinen Sinnenrausch hemmungslos mit der Göttin der Liebe im Venusberg ausgelebt hat. »Mach, dass ich rein und engelgleich / eingehe in dein selig Reich«, fleht sie die Jungfrau Maria kurz vor ihrem Tod an.
Der Protestant Wagner gibt sich hier als klassischer Jungfrauenverehrer. Reinheit ist gleichbedeutend mit Keuschheit, mit der Absage an »sündiges Verlangen« und »weltlich’ Sehnen«. Mit ihrem Liebestod erlöst die reine Jungfrau auch den zutiefst unreinen Tannhäuser, der zuvor den Papst vergeblich um Gnade angefleht hatte: Tot darf er zu Boden sinken, nachdem Elisabeths Sarg an ihm vorübergetragen wurde. Das Jungfrauenopfer hat Gott so besänftigt, dass dem Sinnensünder im Jenseits vergeben wird.
Als Geschlechter-Travestie des Tannhäuser kommt Wagners Alterswerk und Bühnenweihfestspiel Parsifal daher. Auch hier dürstet ein Verfluchter, der den Verlockungen des Fleisches erlegen ist, nach Erlösung: Amfortas, oberster Gralsritter und als solcher Hüter des reinstes Blutes, das bei Christi Kreuzestod in den heiligen Kelch geflossen ist, hat sich in Klingsors »Zaubergarten« von Kundry, dem teuflischen Weib, verführen lassen. Seither blutet, um nicht zu sagen: menstruiert er in regelmäßigen Abständen aus einer Wunde, die ihm Klingsor beigebracht hat. Höchst unrein. Von dieser peinlichen Qual kann nur einer Amfortas erlösen: »Durch Mitleid wissend, / der reine Tor.« Und in der Tat taucht jener bald im Gralsgebiet auf: Es ist der tumbe Jüngling Parsifal, der weitab von jeglicher Zivilisation allein mit seiner Mutter im Wald aufgewachsen ist. Auch ihn versucht Kundry zu umgarnen, doch im entscheidenden Augenblick, in dem der Tor kurz davorsteht, vom Weibe erkannt zu werden, spürt er Amfortas’ brennenden Schmerz - und ahnt, dass er zum Erlöser der Ritterschaft berufen ist, wenn er sich nur seine Jungfräulichkeit bewahrt. Am Schluss wird er der neue oberste Gralshüter sein, Amfortas kann in Frieden sterben, und auch das Sündenweib Kundry darf entsühnt verscheiden.
Im Falle Parsifals liegt die viel besungene Reinheit nicht nur in seiner erotischen Unberührtheit. Intellektuell ist der Knabe mindestens ebenso unberührt. Wenn er vor Kundry zurückschreckt, fürchtet er die geistige Entjungferung nicht weniger als die körperliche. Parsifal ist kein Mitdenker. Sondern ein Mitleider. Und diese Reinheit seines Herzens würde vernichtet, würde der Tor sich zum ersten Mal im Leben mit einem Wesen vermischen, das so ganz anders ist als er selbst, würde denselben fatalen Reflektionsprozess erneut in Gang setzen, der schon Adam und Eva den Platz im Paradies gekostet hat. Wissbegierde und Erkenntnislust verunreinigen das Gemüt ebenso wie erotische Begierde und körperliche Lust. Die deutsche Wildsau steht im Garten Eden und quält sich, als sei es an ihr, den Sündenfall ungeschehen zu machen.
Jene Bedeutungsdimension von Reinheit, die im Verlauf der Geschichte noch immense - und barbarische - Konsequenzen haben wird, bricht hier mit Macht durch: Reinheit als schwüles Ganz-bei-sich-und-unter-sich-Bleiben, jede Vermischung mit Fremdem, Andersartigem panisch vermeiden. Deshalb ist es auch fraglich, ob es im Parsifal wirklich um
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