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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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die Verteufelung alles Geschlechtlichen geht, wie Friedrich Nietzsche in seiner berühmten Tirade gegen das einstige Idol Wagner meint, und nicht vielmehr um die Verteufelung des Gemischt-Geschlechtlichen. Die dionysischen Männerchöre, die Wagner seinen Gralsrittern komponiert, lassen unterschwellig die Ahnung aufkommen, wie ein Ausweg aus der quälenden Gleichung »Sex = Unreinheit« aussehen könnte: schwule Massenorgie.
    Einen völlig anderen Ausweg bietet Richard Wagner in seinem Größtwerk Der Ring des Nibelungen an. Allerdings ist auch dieser geeignet, jeden frommen Christen das Kreuz schlagen zu lassen.
    Im zweiten Teil des Bühnenfestspiels, in Die Walküre, wird der Begriff »rein« auf eine Frau angewandt, der die Lust des »Wonnemonds«, den sie gerade erlebt hat, aus jeder Notenpore quillt. Sieglinde heißt sie. Siegmund heißt derjenige, der ihr die Liebesnacht beschert hat und nun verkündet, dass kein andrer außer ihm »die Reine« lebend berühren soll. Siegmund und Sieglinde sind Geschwister. Zwillingsgeschwister. Mehr Bei-sich-Bleiben im Geschlechtsakt ist - abgesehen von der Onanie - nicht möglich. Das Ergebnis des inzestuösen Rausches wird Siegfried heißen. In der Logik des Rings ist es nur konsequent, wenn jener Held am Schluss des letzten Teils, in Götterdämmerung, als »Reinster« besungen wird, und zwar von Brünnhilde, mit der er höchste Lust genossen hat, bevor ihre Liebe dem intriganten Lauf des Schicksals zum Opfer fiel. Brünnhilde wiederum ist Siegfrieds Tante und diejenige, die in Die Walküre den Bruch mit dem geliebten Göttervater Wotan in Kauf genommen hat, um ihre Halbschwester Sieglinde, gleichfalls Wotanstochter, samt deren frischer Leibesfrucht, Wotansenkel Siegfried, zu retten. Das Inzest-Tabu, das - folgt man Freud - den Beginn aller Zivilisation markiert und auf dem Grunde des Unbehagens in der Kultur schlummert, wird mit großer Geste außer Kraft gesetzt. In-Zucht als Mittel der Heldenveredelung. Die deutsche Seele im Reinheitsdelirium, einzig zu ertragen, weil wir in der Oper sind, wo am Schluss die ganze Welt brennen und in der nächsten Vorstellung doch wiedererstehen darf.
    Vermutlich hätte Luther mit dem Tintenfass nach Wagner geworfen, hätte er eine Zeitreise nach Bayreuth unternommen und wäre Zeuge davon geworden, welch »Mist- und Saupfuhl« dort über vier Abende hinweg besungen wird. Dennoch gibt es einen wichtigen Aspekt im Reinheitsstreben, in dem sich der Reformator des Christentums und der Reformator der Oper ganz einig sind: dort, wo es um die Reinheit der Sprache, des Ausdrucks geht. Luther gilt, vor allem dank seiner Bibelübersetzung, als der Begründer des Neuhochdeutschen. In seiner Auslegung des Buchs Jesaja verlangt er, dass »wir es versuchen und uns darum plagen müssen, dass wir den reinen, einfachen, echten deutschen und einen Sinn der Heiligen Schrift erhalten, wie man ihn erhalten kann«. Es gehe darum, die »Schrift frisch und rein auf die Kanzel zu bringen«. Für Luther spricht Gottes Wort durch das Evangelium unmittelbar und direkt zu uns. Dies kann es aber nur, wenn auch das schlichte, des Lateinischen nicht mächtige Volk Wort für Wort, Satz für Satz versteht, was in der Bibel steht, was gepredigt wird. Nur so dringt die Botschaft direkt ins Herz.
    Um den reinen, vom konventionellen Korsett befreiten Ausdruck ringt auch Wagner. So wie Luther gegen die lateinische Messe zu Felde zieht, sagt jener der italienisch geprägten Opera seria bzw. französischen Grand opera den Kampf an. Wie Luther die Liturgie mit ihrer starren Gliederung zugunsten des freier zu gestaltenden Gottesdienstes abschafft, räumt Wagner mit der Struktur von Rezitativ, Arie, Ensemble, Chor zugunsten des offeneren »Musikdramas« auf. Wo sich der Opernkomponist alter Schule damit begnügt, dem Libretto, das ein fremder Autor verfasst hat, einen mehr oder weniger virtuosen Klangmantel zu schneidern, will der Musikdramatiker, der Gesamtkunstwerker, alles aus sich selbst schöpfen, Text, Musik, Bühne verschmelzen zur untrennbaren Einheit. So wie Luther karge Kirchen verlangt, damit das Zwiegespräch, das der Gläubige mit seinem Gott führt, durch kein Ornament abgelenkt wird, schafft Wagner mit Bayreuth einen Tempel, der in seiner Innenausstattung so nüchtern wie als Institution größenwahnsinnig ist.
    Die Reinigung des Christentums / der Oper, wie beide Reformatoren sie betreiben, hat eine doppelte Richtung: Alles bloß Äußerliche, Aufgesetzte, Fremde

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