Die deutsche Seele
Höfe ward, von ihrer ehemaligen jungfräulichen Züchtigkeit und Strenge allmählich nach; wurde von Jahr zu Jahr freier und ausgelassener im Umgange mit Fremdlingen, und es fehlte am Ende wenig, dass sie nicht alle Scham verlor und, feilen Lustdirnen gleich, sich einer schändlichen Vermischung mit jedem, ihr noch so fremden Ankömmlinge, preisgab.«
Die Sprachpuristen unserer Tage tun sich damit hervor, alljährlich den »Sprachschuster« bzw. »Sprachpanscher des Jahres« vorzuführen wie zum Beispiel die - in ihrem Design extrem puristische - Hamburger Modemacherin Jil Sander, weil sie in einem Interview gesagt hat: »Wer Ladysches will, searcht nicht bei Jil Sander. Man muss Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils.« Jene Reinheitsapostel mögen sich daran erinnern, dass selbst Martin Luther bisweilen hemmungslos zwischen Deutsch und der damaligen Lingua franca Latein switcht: »Mein Leib ist ein stinkender Wanst, corpus, quod non rein, si etiam gesund ist.« (Mein Leib ist ein stinkender Wanst, ein Körper, weshalb er nicht rein, selbst wenn er gesund ist.) Sprachreinheit in letzter Konsequenz darf nur derjenige fordern, der auch bereit ist, in einem von Zwillingsgeschwistern gezeugten Spross keine Perversion, sondern die Verkörperung des »Reinsten« zu sehen. Allerdings bleibt zu bezweifeln, ob Inzucht der deutschen Sprache besser bekommt als dem germanisch-göttlichen Heldengeschlecht, dem am Schluss nur der Weg in den Flammentod bleibt.
Im September 1935 erließen dieNationalsozialisten die »Nürnberger Rassegesetze«. In Anlage Cfindet sich das sogenannte Blutschutzgesetz, das der Reinhaltungdes »deutschen Blutes und derdeutschen Ehre« dienen sollte.Eheschließungen und »außerehelicher Verkehr« zwischen »Judenund Staatsangehörigen deutschenoder artverwandten Blutes« wurden verboten. Und weil die nationalsozialistischen Antisemitenihrer eigenen Behauptung, mankönne »den Juden« bereits amÄußeren erkennen, letztlich dochnicht trauten, verordneten sie imNationalsozialistischer Reinheitswahn, 1935.September 1939 bzw. 1941, dass Juden den gelben Stern »sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstückes fest aufgenäht zu tragen« haben. Die Weichen für den Holocaust waren endgültig gestellt.
Seit das ruchlose Reich in Schutt und Asche gelegt ist, scheint auch der Reinheitswahn aus der deutschen Seele herausgebrannt. Aber ist er das wirklich? Woher kommt es, dass wir Deutschen uns vor den Gefahren der Atomkraft mehr fürchten als alle Franzosen, Japaner und Amerikaner zusammen? Hat es nicht damit zu tun, dass radioaktive Strahlung keine sinnlich wahrnehmbare Umweltverschmutzung ist, sondern eine schleichende Verunreinigung, die niemand sieht, niemand riecht, niemand schmeckt und die noch dazu auf unheimliche Weise unser Erbgut zu kontaminieren vermag? Es ist nicht wirklich beruhigend, dass die Ersten, die die Gesundheitsrisiken durch Radioaktivität mit größtem Argwohn untersucht haben, Wissenschaftler im NS-Staat gewesen sind.
Warum waren ARD und ZDF schneller als jeder andere europäische Fernsehsender dabei, die Live-Übertragung der Tour de France auszusetzen bzw. ganz einzustellen, nachdem sich abzeichnete, dass wohl keine Radlegende jemals allein aus Pasta und Schweiß gebraut worden ist, sondern die gesamte Sportart als »dopingverseucht« gelten muss? Es war ein bizarres Vergnügen, deutschen Radsport-Kommentatoren zu lauschen, als sie nach dem großen Skandal von 2006 eifrig darum bemüht waren, bei jedem aggressiven Antritt, der am Berg erfolgte, erkennen zu wollen, ob der Radler seinen »Turbo« nur dank Epo oder sonstiger verbotener Substanzen einschalten konnte.
Warum gilt in Deutschland Gen-Mais als Emblem alles technologisch Pervertierten - wenngleich er auch bei uns längst Realität ist -, während der Rest der Welt nicht nur bedenkenlos sein Vieh damit mästet, sondern sich auch die Lust am Popcorn nicht verderben lässt? Warum machen Ökobewusste hierzulande einen Kult daraus, nur dem Apfel über den Weg zu trauen, der sich im Reformhaus besonders klein und schrumplig präsentiert? Weil in Umkehrung der bekannten Redensart gelten soll: Außen pfui, innen hui?
Deutschland war noch nie ein homogenes, »reines« Gebilde: im Innern klein- und kleinststaatlich parzelliert, regional zerstreut, nach außen hin umgeben von so vielen Nachbarn wie kein anderes europäisches Land. Einflüsse aus Ost und West haben es immer geprägt. Deshalb bringt es nichts,
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