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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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nach Feierabend noch ein paar Oden an die Waben gesummt werden dürfen.
    Aber empfand der Deutsche, der im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert seine sechzig bis siebzig Stunden pro Woche in den Stahlwerken, Maschinen-, Chemie- und sonstigen Fabriken von Krupp bis Mannesmann malochte, tatsächlich jenen scharfen Gegensatz von einem bitteren »Reich der Notwendigkeit«, das laut Marxens Kapital »die Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion« immer bleiben werde, und einem »Reich der Freiheit«, in dem »das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört«? Oder war er nicht längst auf dem Weg in eine stählerne Romantik, die im maschinellen Schuften selbst bereits die höchste Form der Selbstbetätigung sah?
    Der Philosoph und Soziologe Max Scheler meinte: Ja. Und machte genau diesen Zug der deutschen Seele dafür verantwortlich, dass seine Landsleute allen anderen Völkern so dubios geworden waren. 1916 hielt er in München einen Vortrag, der Die Ursachen des Deutschenhasses analysierte. Die Grundthese: Bereits vor Ausbruch des Krieges sei Deutschland, der »welthistorische Emporkömmling«, die meistgehasste Nation der Welt gewesen, weil es mit seiner Arbeitswut die anderen aus ihren jeweiligen Paradiesen vertrieben habe. Die Nachbarn im Osten wollten nichts als »Träumen, Sinnen, Fühlen, Beten […] aber auch Schnapstrinken«, die Engländer würden nur deshalb »kaufen und verkaufen«, damit sie »Freitag abends schon die Wochenarbeit abschließen und auf den Sportplatz fahren« könnten, während die Franzosen ihren steigenden »Finanzreichtum bei wenig Kindern« vor allem dazu nutzten, »Zeit und edle Muße zu Luxus« zu haben und »nach zwanzig- bis dreißigjähriger Arbeit« einem Rentnerdasein zu frönen.
    Doch dann sei plötzlich der Deutsche aufgetaucht. »Er trug das Gepräge eines schlichten Arbeitsmannes mit guten derben Fäusten; es war ein Mann, der nach dem inneren Zeugnis seiner eigenen Gesinnung nicht um zu übertreffen oder um irgendeines Ruhmes willen, nicht auch um neben oder nach der Arbeit zu genießen, nicht auch um in einer der Arbeit folgenden Muße die Schönheit der Welt zu verehren und zu kontemplieren, sondern ganz nur versunken in seine Sache still und langsam, aber mit einer von außen gesehen furcht-, ja schreckenerregenden Stetigkeit, Genauigkeit und Pünktlichkeit, in sich selbst und in seine Sache wie verloren, arbeitete, arbeitete und nochmals arbeitete - und was die Welt am wenigsten begreifen konnte - aus purer Freude an grenzenloser Arbeit an sich - ohne Ziel, ohne Zweck, ohne Ende.«
    Diese Arbeitswut, die zugleich höchste Arbeits/z«£ war, sei laut Scheler allerdings kein Phänomen, das erst mit der beschleunigten Industrialisierung im Kaiserreich ans Tageslicht getreten sei, sondern eine »Urmitgift germanischen Wesens«. Schon der Lebensphilosoph Wilhelm Dilthey glaubte eine Generation vor Scheler behaupten zu können, dass das Handeln der Germanen durch keine rationale Zwecksetzung bestimmt und begrenzt gewesen sei; vielmehr habe sich ihr Tun durch ein Übermaß von Energie ausgezeichnet, das über jeglichen Zweck hinausginge.
    Als frühen Gewährsmann für die Unendlichkeitssehnsucht der Deutschen führte Scheler den barocken Philosophen und Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz an, der von sich selbst gesagt haben soll, er habe schon beim Erwachen so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreiche, um sie niederzuschreiben, und der die endlose Vervollkomm nung , nicht eine je zu realisierende Vollkommen heit zum Ziel aller menschlichen Bemühungen erklärt hatte. Auch Lessing, Goethe, Kant seien ohne das Ideal des »ewigen Strebens« bzw. der »uendlichen Pflicht« nicht zu verstehen.
    Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte der französische Philosoph Emile Boutroux einen Vortrag über die deutsche und die französische Seele gehalten, in welchem das einstmals germanophile Mitglied der Academie francaise begründete, warum seine Liebe zu Deutschland mit dem Wechsel von Goethe zu Krupp erloschen, ja sogar in Abscheu umgeschlagen sei. Die Deutschen hätten ihre zum Idealismus so begabte Arbeitsseele dem Materialismus verkauft.
    Dieser Diagnose, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts mit den Deutschen ein unheimlicher Wandel vollzogen habe, schloss Scheler sich in seinem Vortrag an. Obwohl er betonte, dass das neue Industrie-Rackertum seine Wurzeln im klassisch-humanistischen Unendlichkeitsstreben habe, war auch ihm

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