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Die deutsche Seele

Die deutsche Seele

Titel: Die deutsche Seele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thea Dorn
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Haus!«
    Andererseits: Wer sagt denn, dass die Schallplatte nicht noch einmal aufgelegt werden kann und das ganze Lied von vorn beginnt? Zwar ist es nirgends so schön wie bei Muttern auf dem Sofa, aber was wäre Mutterns Sofa ohne das Kissen, das in die Ferne lockt?
    »Das Land der Griechen mit der Seele suchend. Iphigenie von Anselm Feuerbach, 1871.
    Auch im neonhellsten Treppenhaus mit Bohnerwachs und Spießigkeit kann die Sehnsucht den Familienvater, der nur eben Zigaretten holen will, überfallen, so dass es aus ihm hervorbricht: »Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals auf Hawaii, / Ging nie durch San Francisco in zerriss’nen Jeans. / Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei, / Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen flieh’n.« Dass der Aufbruch am Schluss vor dem heimischen Fernseher versandet - was soll’s. Das Gefühl bleibt. Und wer weiß: Vielleicht schenkt ihm die Gattin zum nächsten Hochzeitstag ja zwei Tickets für das große Udo-Jürgens-Musical in Hamburg, Wien oder wenigstens Stuttgart, Übernachtung im Drei-Sterne-Hotel inbegriffen.
    Wem diese Jukebox zu schlagerseicht erscheint, der mag die seine gern bildungsbürgerlicher bestücken: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n, / Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glüh’n, / Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, / Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht - / Kennst du es wohl? Dahin! Dahin! / Möchte’ ich mit dir, o mein Geliebter, zieh’n!« Richtig. Goethe. (Ob der Connaisseur sich für die Vertonung durch Carl Friedrich Zelter, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Louis Spohr, Fanny Mendelssohn-Hensel, Franz Liszt, Robert Schumann, Hugo Wolf oder Alban Berg entscheidet, sei ihm überlassen. Einzig vom Griff nach der Walzer-Variante des Johann Strauß [Sohn] sei in diesem Zusammenhang abgeraten.)
    Das Ziehen in der Brust, der Schmerz, der entsteht, wenn die Seele ihre Flügel ausspannt, um Dahin! Dahin! zu fliegen, kennt verschiedenste Intensitäten. Es kann als sanfte Wehmut daherkommen, kaum mehr als ein Schleier, der die Farben der Welt ein wenig abschattiert: »Wenn ich mir was wünschen dürfte, / Kam’ ich in Verlegenheit, / Was ich mir denn wünschen sollte, / Eine schlimme oder gute Zeit. // Wenn ich mir was wünschen dürfte, / Möchte’ ich etwas glücklich sein, / Denn wenn ich gar zu glücklich wäre, / hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein.« (Friedrich Hollaender, der »große kleine Friedrich«, wie Charlie Chaplin den exilierten Musikdichter liebevoll nannte, ist eine sehr gute Lösung, wenn die von der deutschen Kulturkritik stets eingeklagte Entscheidung zwischen »E« und »U« wieder einmal schwerfällt.)
    Der Sehnsuchtsschmerz kann zur glühenden Qual werden, wie Goethe es seine arme Mignon in dem anderen, noch berühmteren Lied singen lässt: »Nur wer die Sehnsucht kennt, / Weiß, was ich leide! / Allein und abgetrennt / Von aller Freude, / Seh ich ans Firmament / Nach jener Seite. / Ach! der mich liebt und kennt, / Ist in der Weite. / Es schwindelt mir, es brennt / Mein Eingeweide. / Nur wer die Sehnsucht kennt, / Weiß, was ich leide!«
    Die Sehnsucht kann sich brennglasgleich auf den, die oder das Geliebte/n richten, der/die/das in der Ferne weilt. Dann gibt es nur noch das Eine, Unerreichte, der Rest der Welt versinkt im faden Dunkel. Die Sehnsucht kann sich zum allumfassenden Weltschmerz aufschwingen: Wer erwartet, dass ihn in jedem Fenster ein freundliches Gesicht grüßt, dem erscheinen bald alle Scheiben blind.
    Nur eins darf die Sehnsucht nicht: aufhören. Das wäre das Ende. Nicht bloß ihres, es wäre das Ende desjenigen, der sein ganzes Selbstgefühl daraus bezieht, sich im Sehnen zu spüren. Mit jedem Schritt wird die Erfüllung heftiger herbeigesehnt - mit jedem Schritt wird sie weiter weggeschoben. Das ist das magische Spiegelkabinett, in dem der Sehnsüchtige sein einzig wahres Zuhause hat. Wer zum Augenblick sagt: Verweile doch, du bist so schön! - um den ist es geschehen, selbst wenn er seine Seele nicht dem Teufel verschrieben hat.
    Nie würde es die Sehnsucht ertragen, mit ansehen zu müssen, wie das Ersehnte, so innigst Ausgemalte in den Waschgängen des Alltags ausbleicht, fadenscheinig wird, zerfällt. Deshalb ist der Sehnsüchtige immer auf dem Sprung. Oder er setzt an zum letzten Finale. Don Giovanni oder Tristan. Den einen hält’s bei keiner Frau länger als einen Orgasmus, der andere zögert den einen unwiederbringlichen

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