Die deutsche Seele
ihrer Sippen- oder Standesverhaftung herauszulösen und zu aufgeschlossenen Gesellschaftsmitgliedern zu machen. Der Breslauer Philosoph Christian Garve, einer der wichtigsten Aufklärer neben Immanuel Kant und Moses Mendelssohn, beklagte die »Einsamkeit«, die es gerade unter den Bildungsbürgern gäbe und diese »zu einer leichten und muntern Tätigkeit unter anderen Menschen ungeschickter« mache. Adolph Freiherr Knigge veröffentlichte 1788 die erste Ausgabe seines berühmten Benimmbuchs Über den Umgang mit Menschen und begründete die Notwendigkeit einer solchen Schrift damit, dass es in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern am esprit de conduite mangele. Der Philosoph und Theologe Friedrich Schleiermacher versuchte sich an einer »Theorie des geselligen Betragens«, in welcher er die Kniggeschen Umgangsregeln ablehnte, weil sie lediglich dem Zweck dienten, auf gesellschaftlichem Parkett eine gute Figur zu machen, wohingegen es bei echter Geselligkeit um »vollendete Wechselwirkung« gehe. Diese sei nur zu erreichen, wenn »die Sphäre eines Individui […] von den Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten werde«. »Jeder seiner eignen Grenzpunkte« möge dem Einzelnen »die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre[n], so dass alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können«.
Bildungsidealismus und der Glaube, erst durch den Umgang mit anderen gebildeten Individuen zum Menschen im vollen Sinne zu werden, prägte diese erste Phase des deutschen Geselligwerdens. Mit Deutschtümelei hatte man im 18. Jahrhundert wenig am Drei- oder Zweispitz, jenem Hut, den nun endlich auch der Bürger stolz auf seinem Haupt oder unterm Arm tragen durfte. Man wollte sich vor den europäischen Nachbarn, mit denen man florierenden Handel betrieb, nicht länger schämen müssen. Dies hoffte man am besten zu erreichen, indem man den Kosmopoliten in sich entdeckte. Der Hamburger Journalist Jakob Friedrich Lamprecht gab in den Jahren 1741 / 42 gar eine Wochenschrift mit dem Titel Der »Weltbürger heraus.
Es ist kein Zufall, dass das frühe Gesellschaftsleben besonders in den Hansestädten zu blühen begann. Bereits 1622 hatte man in Rostock, lange vor Berlin und Göttingen, eine freie wissenschaftliche Akademie gegründet. Zum Zentrum der Urbanen Geselligkeit wurde Hamburg: 1660 fand dort das erste öffentliche Konzert eines Collegium musicum statt - das berühmtere Collegium musicum in Leipzig, das die Komponisten Georg Philipp Telemann und Johann Sebastian Bach leiteten, gab es erst gut vierzig Jahre später. In der Hamburger »Patriotischen Gesellschaft« von 1765, die sich der »Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe« verpflichtet hatte, spiegelt sich hanseatischer Patrizierstolz bis heute. Auch die Freimaurerei, die im 17. Jahrhundert im anglikanischen England entstanden war und in humanistisch-aufklärerischem Geist Handwerker, Kaufleute, Künstler und adlige Gönner zu gemeinsamem Mahl, Vortrag und Diskussion versammelte, nahm in Hamburg ihren deutschen Anfang. Wo sich die gesamte Gesellschaft im Fluss befand, Standesunterschiede verschwammen, tat neue Gesellschaftsbildung not.
Ganz ohne Geheimniskrämerei schlossen sich ebenfalls im protestantischen Norden von Pommern bis Bremen die ersten Lesezirkel zusammen, Leihbibliotheken wurden eröffnet, damit sich auch das Garderobenmädchen und der Kutscher »bürgerlich verbessern« konnten. Dass Frauen hier Zutritt hatten, war keine Selbstverständlichkeit. Die sonstigen Gesellschaften, Sozietäten und Logen waren reine Männerclubs, allenfalls das eine oder andere gebildete und unverheiratete Frauenzimmer wurde toleriert. Ein aus privatem Freundeskreis entstandener Zirkel wie die Karlsruher »Gesellschaft zum Haarenen Ring«, in der sich beide Geschlechter wöchentlich trafen - und als Verbundszeichen einen Ring aus den Haaren ihrer Mitglieder trugen -, blieb seltene Ausnahme. Sogar der »Adlige Damenclub« Münster bestand im Wesentlichen aus männlichen Mitgliedern.
Ihren großen Auftritt hatten die Damen im »Salon« - zu dessen Bezeichnung sie selbst allerdings bescheidenere Begriffe wie »Teetisch« oder »Dachstube« bevorzugten. Die Keimzelle dieser bis heute bewunderten Form einer freien, geistsprühenden, fortschrittlichen Geselligkeit lag in Berlin-Mitte in der Wohnung von Henriette Herz und ihrem Ehemann.
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