Die deutsche Seele
auserwähltes Volk zu halten. Allerdings beendete er seine Kampfschrift Deutsches Volkstum, 1808 verfasst und 1810 veröffentlicht, keineswegs mit einer Aufforderung, alles Undeutsche zu vertilgen, sondern schwang sich zu Schillerschem Pathos auf: »So ist nun ewig umschlungen das Menschengeschlecht vom ewigen Bande der Menschheit, bald es mit engerem Herzen selbstsüchtig knüpfend und wieder mit höherer Ahnung die Einheit ergreifend. Ein ewiges Ebben und Fluten im Meer der Vereinigung, vereint ist nun alles und jedes.«
Wogegen Jahn vor allen Dingen zu Felde zog, war die deutsche Eigenbrötlerei, der »Götzendienst der Selbstsucht«. Ebenfalls im Deutschen Volkstum schrieb er: »Mensch zu werden ist der Mensch bestimmt, und diesen Adel kann er nicht allein erringen […] Der Immereinsiedler verschmäht seine Pflicht und verliert sein Anrecht in der Menschheit. Er bildet sein Ich nicht zum wahren Menschen aus, kann nicht an Menschlichkeit reifen, auf des Augenblicks Schwingen entfliehen ihm Jugend und Leben. In menschenleeren Wüsten, in stumm-gekünstelten Klausen wird das sittliche Gefühl nicht zur Tugend, jedes Lebende flieht aus der Ode.«
Mit solchen Appellen stand Jahn den utopischen Geselligkeits-Befürwortern der Aufklärung näher als den völkischen Lederherzen, die ihn im darauffolgenden Jahrhundert vereinnahmen und Deutschland in den Untergang führen sollten. Seine Überzeugung, dass Gemeinschaftlichkeit zunächst einmal aus den Wurzeln der eigenen Sprache, Geschichte und Tradition wachsen muss, ist kein Skandal.
Eine ganz andere Art von Schaden fügte dem Ruf des »Turnvaters« eine zweite Strömung zu, die sich gleichfalls auf ihn berief: der gänzlich unpolitische Vereinsmeier, der zum Zwillingsbruder des deutschen Biedermeiers wurde.
Der Aufbruchsgeist, der nach den erfolgreichen Befreiungskriegen gegen Napoleon in Deutschland geherrscht hatte, die Hoffnung, endlich eine Nation zu werden, und zwar eine ebenso geeinte wie demokratische, wurde von der restaurativ-feudalen Obrigkeit erstickt. Dennoch brodelte es im Vormärz unter der biederen Oberfläche allenthalben weiter - ihren feierlichsten Ausdruck fand diese Unruhe im Hambacher Fest, bei dem 1832 rund 30 000 Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, Männer, Frauen, Akademiker und Ungebildete, sowie zahlreiche Polen, die nach dem gescheiterten Novemberaufstand nach Deutschland geflohen waren, zu der Schlossruine zogen, um zu verkünden: »Es lebe das freie, das einige Deutschland! Hoch leben die Polen, der Deutschen Verbündete! Hoch leben die Franken, der Deutschen Brüder, die unsere Nationalität und Selbstständigkeit achten! Hoch lebe jedes Volk, das seine Ketten bricht und mit uns den Bund der Freiheit schwört! Vaterland - Volkshoheit - Völkerbund hoch!«
Auf die liberalen Forderungen, endlich uneingeschränkte Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit zu gewähren, reagierte der preußische Staat mit Härte: Die Karlsbader Beschlüsse von 1819, die das Land mit einem rigiden Netz von Zensurverboten überzogen hatten, die zu Berufsverboten für liberalnational gesinnte Professoren, zur Auflösung der ersten Burschenschaften und dem Verbot des Jahnschen Turnens geführt hatten, wurden nach dem Hambacher Fest bestätigt - die sogenannte Demagogenverfolgung, in deren Zuge man auch Friedrich Ludwig Jahn zunächst inhaftiert und später unter Polizeiaufsicht gestellt hatte, noch einmal verschärft.
Jahns Rehabilitierung und mit dieser das Wiederaufleben der »Turnerei« fand erst ab 1837 statt. 1848 wurde Jahn in die Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche gewählt. Allerdings führten die Erfahrungen, die er im ersten deutschen Parlament machte, dazu, dass sich »der Alte im Bärte« noch tiefer in die Resignation zurückzog. Seiner zweiten Ehefrau schrieb er aus Frankfurt: »Wir haben zehn Klubs. Ich gehöre zu keinem, weil ich es für Sünde halte, wider Überzeugung zu stimmen, wenn der Klub für eine Meinung nach Stimmenmehrheit entschieden hat. Das ist Betrug an der Wahrheit, Verleugnung des Gewissens und Meineid gegen das Volk. Dies Ungeziefer eines langen Friedens, dies Ungezücht eines durch und durch verderbten Zustandes will auf Unglauben, Unsitte und Unsittlichkeit ein neues Staatswesen gründen.« Einen anderen Brief beschloss der Pfarrerssohn und ehemalige Soldat, der trotz allem Freiheitsdrang ein Verfechter des preußischen Erbkaisertums blieb, mit den Worten: »Napoleon war arg, aber die Roten sind
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