Die deutsche Seele
zu Kaiser Wilhelm und seinem eisernen Kanzler Bismarck: totes Sediment. »Vater Rhein« in seiner schillernden Vielgestaltigkeit ist der Einzige, der selbst in unserer vorsichtig gewordenen Gegenwart noch als Ursprungsmythos, als Seelenspiegel taugt. Und sei es nur, weil er zu solch melancholischen Betrachtungen einlädt, wie sie bereits der Romantiker Friedrich Schlegel angestellt hat: »Nirgends werden die Erinnerungen an das, was die Deutschen einst waren und was sie sein könnten, so wach, als am Rheine. Der Anblick dieses königlichen Stromes muss jedes deutsche Herz mit Wehmut erfüllen. Wie er durch Felsen mit Riesenkraft in ungeheuerm Sturz herabfällt, dann mächtig seine breiten Wogen durch die fruchtreichsten Niederungen wälzt, um sich endlich in das flachere Land zu verlieren; so ist er das nur zu treue Bild unsers Vaterlandes, unsrer Geschichte und unsers Charakters.«
>Abgrund, Gemütlichkeit, Grenzen, Heimat, Männerchor, Narrenfreiheit, Ordnungsliebe, Reinheitsgebot, Waldeinsamkeit, das Weib
Vereinsmeier
Der Germane hat es nicht gern, wenn ihm seine Mitmenschen zu dicht auf den Pelz rücken. Unsere antiken Urahnen vermieden es, in Städten zu wohnen. Selbst schlichte Siedlungen erschienen ihnen als soziale Zumutung. Wenn schon Dickicht, dann bitte Botanik. Am liebsten hausten sie »einzeln und gesondert, gerade wie ein Quell, eine Fläche, ein Gehölz« ihnen zusagte. So zumindest überliefert es der römische Geschichtsschreiber Tacitus.
Auch wenn es aus heutiger Sicht schwer vorstellbar erscheint: Der Ruf, ein Volk von Eigenbrötlern, Einzelgängern, Sonderlingen und ungehobelten Individualisten zu sein, haftete den Deutschen bis ins frühe 20. Jahrhundert an. Allerdings begannen bereits im 17. Jahrhundert die gebildeten Nachfahren jener Germanen, die einsam-vergnügt mit der Keule über der Schulter durch die Wälder gezogen waren und denen die eigene Sippe als Gesellschaft genügt hatte, darunter zu leiden, dass die Deutschen im Gegensatz zu den Italienern, Franzosen, Engländern kein manierliches Sozialleben vorzuweisen hatten.
Um gesittet miteinander verkehren zu können, brauchte es zunächst einmal eine gesittete Sprache. Und um die war es im Deutschland an der Grenze vom Mittelalter zur Neuzeit nicht gut bestellt. Zwar hatte Luther mit seiner Bibelübersetzung den Grundstein fürs Neuhochdeutsche gelegt, aber das Volk redete immer noch so, wie ihm sein sächsischer, plattdeutscher oder alemannischer Schnabel gewachsen war. An den Adelshöfen bemühte man sich mit mehr oder minder großem Erfolg, französisch zu parlieren, während jeder Gelehrte, der ernst genommen werden wollte, auf Latein schrieb.
Die ersten deutschen Vereine waren Sprachgesellschaften. 1617, kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs, konnte Fürst Ludwig I. von Anhalt-Kothen die Gründung der »Fruchtbringenden Gesellschaft« verkünden, deren Aufgabe es war, »unsre edle Muttersprache, welche durch fremdes Wortgepränge wässerig und versalzen worden, hinwieder in ihre uralte gewöhnliche und angeborne deutsche Reinigkeit, Zierde und Aufnahme einzuführen, einträchtig fortzusetzen und von dem fremd drückenden Sprachenjoch zu befreien«.
Auch die anderen barocken Sprachgesellschaften, die sich noch während des Krieges bildeten, wie die »Aufrichtige Tannengesellschaft« oder der »Pegnesische Blumenorden«, schienen die Abwehr der Fremdsprachenherrschaft für das dringlichere Problem zu halten als die Überwindung der dialektalen innerdeutschen Sprachverwirrung. Bei diesen Frühaufklärern handelte es sich zwar noch nicht um National-Chauvinisten - die sollten das Vereinsleben erst im 19. Jahrhundert dominieren -, aber auch sie taten sich offensichtlich schwer damit, das Deutsche von innen heraus und nicht primär in Abgrenzung gegen andere Sprachen zu fassen. Selbst ein polyglotter Universalgelehrter wie Gottfried Wilhelm Leibniz, der seine eigenen Werke selbstverständlich auf Latein und Französisch verfasste, gab bei der Gründung der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1700 - an der er maßgeblich beteiligt war - zu bedenken, dass »auch die uralte deutsche Hauptsprache in ihrer natürlichen Reinigkeit und in ihrem Selbststand erhalten werde und nicht endlich ein ungereimtes Mischmasch und Undeutlichkeit daraus entstehe«.
Mit dem Aufstieg des Bürgertums breitete sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Wunsch aus, die Deutschen aus ihrem Einzelgängertum,
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