Die deutsche Seele
Henriette Herz, und selbst wenn es nie darum gegangen war, die illustren Gäste mit aufwendigem Buffet zu ködern, fehlten der Witwe fürderhin die Mittel, eine angemessene Gastgeberin sein zu können. Rahel Levins erster Salon kam 1806 unter die Räder der Geschichte: Nach der katastrophalen Niederlage, die das preußische Heer in der Schlacht von Jena und Auerstedt erlitten hatte, besetzten napoleonische Truppen Berlin. (Erst 1819 gelang es Rahel, dann verheiratete Varnhagen, ihren zweiten Salon zu eröffnen.)
Schuld an diesem Niedergang waren jedoch nicht allein die französischen Besatzer, die über alle sozialen Umtriebe wachten. Auch nicht die Tatsache, dass viele der Männer, die bei Herz und Varnhagen ein und aus gegangen waren, eine neue Lust daran entdeckten, wieder unter sich zu bleiben. Was immer Ziel und Zweck der »Gesetzlosen Gesellschaft«, 1809 in Berlin gegründet und bis heute existierend, gewesen sein mögen - ihr Mitglied E.T. A. Hoffmann lästerte, es sei im Wesentlichen darum gegangen, »auf eine gut deutsche Art Mittag zu essen« -, ein Gesetz gab es doch: Frauen müssen draußen bleiben.
Noch entscheidender war, dass im gedemütigten Preußen der geistige Wind von universalistisch-kosmopolitisch auf deutsch-national gedreht hatte. Heute vergessene Figuren wie Luise Gräfin von Voß übernahmen die Rolle der neuen Gastgeberin, in deren feudalen Räumlichkeiten sich eine mehr und mehr militärisch zusammengesetzte Elite traf - nicht um »Mensch unter Menschen« zu sein, sondern um antifranzösische Widerstands-Politik zu betreiben. Dass dies in Zeiten der Okkupation heimlich zu geschehen hatte, versteht sich. So stand der Salon der Gräfin stets im Verdacht, lediglich eine Tarnveranstaltung für den legendenumrankten Königsberger »Tugendbund« zu sein, der sich zum Ziel gesetzt hatte, »die durch das Unglück verzweifelten Gemüter wieder aufzurichten, physisches und moralisches Elend zu lindern, für volkstümliche Jugenderziehung zu sorgen, die Reorganisation des Heers zu betreiben und Patriotismus und Anhänglichkeit an die Dynastie allenthalben zu pflegen«.
Auch an der »Liedertafel«, dem ersten deutschen Männergesangverein, den der Komponist Carl Friedrich Zelter 1809 in Berlin gründete, wurde nicht allein der Fülle des Wohllauts wegen gesungen, sondern mit der Absicht, deutsche Kultur und damit deutsches Nationalbewusstsein zu stärken. 1810 schloss sich der flammend patriotische Lehrer und Publizist Friedrich Ludwig Jahn mit elf Freunden in der Berliner Hasenheide zum geheimen »Deutschen Bund zur Befreiung und Einigung Deutschlands« zusammen; ein Jahr später sollte daraus die Turnbewegung entstehen, die nach dem Motto »Frisch, frei, fröhlich und fromm« die Jugend zur Leibesertüchtigung erzog - nicht zuletzt mit dem Ziel, diese möglichst bald und möglichst gestählt in die Befreiungskriege gegen Napoleon schicken zu können.
1811 versammelte sich um den Dichter Achim von Arnim die »Christlichdeutsche Tischgesellschaft«, deren Statuten »Frauen, Franzosen, Philistern und Juden« den Zutritt ausdrücklich verbaten. Zwar erging sich diese Gesellschaft immer noch in romantischen Spielereien, indem etwa auf jede pathetische Rede eine ironische Gegenrede gehalten wurde, dennoch herrschte jener Geist vor, den Heinrich Heine in seiner Abrechnung mit der deutschen Romantik rund zwanzig Jahre später vom französischen Exil aus so vehement attackierte: »Der Patriotismus des Deutschen […] besteht darin, dass sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht, wie Leder in der Kälte, dass er das Fremdländische hasst, dass er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will. Da sahen wir nun das idealische Flegeltum, das Herr Jahn in System gebracht; es begann die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschen-Verbrüderung, gegen jenen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.«
Es ist nicht ganz gerecht, wenn Heine die Schuld an der neuen patriotischen Engherzigkeit ausgerechnet dem »Turnvater« gibt. Gewiss war Jahn eine Frontfigur des erwachenden Nationalgefühls. Gewiss wütete er gegen die »Ausländerei« im eigenen Land und neigte dazu, die Deutschen für ein
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