Die deutsche Seele
um nicht wahr zu sein.
Das muss sich auch der Komponist Richard Wagner gedacht haben, als er am Schluss seines Rheingolds die verzweifelten Rheintöchter klagen ließ: »Rheingold! Rheingold! / Reines Gold! / O leuchtete noch / in der Tiefe dein laut’rer Tand! / Traulich und treu / ist’s nur in der Tiefe: / falsch und feig / ist was dort oben sich freut.«
Auch hier geht es um deutlich mehr als um die reine Freude am Wortspiel. Nachdem der dämonische Nibelungenzwerg Alberich den Rheintöchtern das Gold geraubt und zum verfluchten, allmächtig machenden Ring geschmiedet hat, gibt Göttervater Wotan den Schatz, den er nun geraubt hat, nicht an die Wassernixen zurück, sondern benutzt ihn, um sein pompöses Walhall zu finanzieren. Die Strafe wird ihn drei Bühnenabende später ereilen, wenn er und die ganze von ihm gegründete Zivilisation in den Flammen der Götterdämmerung untergehen, während der gesühnte Rhein wieder in seiner ursprünglichen Reinheit vor sich hin fließen darf.
Die Katastrophe, die sich am i. November 1986 im Werk Schweizerhalle der Sandoz AG ereignete, hielt sich nicht an das Wagnersche Libretto. Zwar machte sich ein Großbrand über eine Institution menschlichen Fortschrittsglaubens her - die befleckte Natur in Gestalt des Rheins durfte sich aber mitnichten gerächt fühlen. Mit dem Löschwasser gelangten Giftstoffe in den Fluss, Verseuchung und Fischsterben waren die Folge. Nicht nur Wagnerianer brachen in Wutgeheul über die technologische Hybris aus, die noch den letzten Respekt vor der Schöpfung verloren zu haben schien. Maßnahmen zur Rettung des Rheins wurden ergriffen, mit dem Ergebnis, dass sich der damalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer bereits im Mai 1988 traute, ein demonstratives Rheinbad zu nehmen.
Die Meldung, dass sich der Rhein in erstaunlich kurzer Zeit regeneriert hatte - und zwar mehr aus eigener Kraft denn aufgrund der wohltätigen Maßnahmen -, wurde eher gereizt denn dankbar zur Kenntnis genommen. Wie die Nationalisten des 19. Jahrhunderts wollten die Ökologen des 20. Jahrhunderts im Rhein einen schwachen und hilfsbedürftigen Vater sehen. 1992 veranstaltete die Kölner Universität eine rückblickende Konferenz zur Sandoz-Katastrophe. Einer der Teilnehmer erklärte: »Vater Rhein war todkrank, konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten, er stand kurz vor dem Umkippen. Inzwischen konnte er die Intensivstation verlassen, liegt aber noch immer im Krankenbett.«
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein! Wer will des Stromes Hüter sein …? Wieder wunderten sich Franzosen und andere Europäer, was die Deutschen nur mit diesem Fluss haben.
Seinen letzten großen politisch-symbolischen Auftritt erlebte der Rhein am 25. April 1967. Der Sarg mit den sterblichen Überresten Konrad Adenauers wurde im Anschluss an den Trauergottesdienst im Kölner Dom per Schiff nach Bad Honnef überführt. Ein Zeremoniell, das diejenigen, denen die Kargheit der Bundesrepublik in Sachen politische Inszenierungen als Mangel erscheint, immer noch ins Schwärmen bringt. Dem Schriftsteller Heinrich Boll hingegen erschien es »lähmend« und »furchterregend«, auch wenn er sich selbst stets als ergebenen Sohn von »Undines gewaltigem Vater« verstanden hatte, dem »alles zu glauben« er bereit sei - außer seiner »sommerlichen Heiterkeit«. Der erste Literatur-Nobelpreisträger der Bundesrepublik hätte es dem ersten Kanzler der Bundesrepublik ruhig gönnen dürfen, dass dessen letzte Reise auf dem »dunklen und schwermütigen« Fluss stattfand. Schließlich hatte sich keiner vehementer als Adenauer dafür eingesetzt, dass Bonn 1949 (provisorische) Hauptstadt der Bundesrepublik wurde, dass sich in der Stunde des totalen Zusammenbruchs der Orientierung suchende Blick abermals vom Rhein gen Westen richtete. Nach der braunen Barbarei sollten Deutsche nie wieder damit kokettieren können, im Grunde ihres Herzens germanische Barbaren zu sein - und aus diesen germanisch-barbarischen Herzen eine »Kultur« geboren zu haben, die alle westliche »Zivilisation« himmelhoch überrage. Die Westbindung beendete den deutschen Sonderweg. Das heißt: Sie beendete ihn als selbstbewusst verkündete Parole. Als Unterströmung existiert er bis heute.
Vergeblich hält der Deutsche der Gegenwart nach Mythen Ausschau, die sich zur großen nationalen Gründungserzählung eignen. Vom Kaiser Barbarossa, der im Kyffhäuser schlafen soll, bis zum Nibelungenlied - vom siegreichen Cheruskerfürsten Hermann bis
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