Die deutsche Seele
beschützen? Kein deutscher Mann, »bieder, fromm und stark«, wie es im Lied von Schneckenburger heißt. Ein Weib wacht über Vater Rhein: Germania.
Ist es Zufall, dass die Wilhelm-vernarrten Denkmalbauer ihr ausgerechnet hier den Vorzug gaben, wo sie doch sonst zwischen Porta Westfalica, Deutschem Eck und Kyffhäuser kaum eine Gelegenheit ausließen, den ersten deutschen Kaiser selbst auf den Sockel zu heben? (Dass im Teutoburger Wald »Hermann« sein Schwert in den Himmel recken durfte, verstand sich von selbst.) Natürlich gab und gibt es andere Germania-Denkmäler als jenes auf dem Rüdesheimer Berg. Aber kaum ein zweites zeigt sie so kämpferisch. Anderorts beschränkte sich ihre Denkmal-Rolle eher darauf, die gefallenen Söhne des Vaterlands zu betrauern: nicht selbst Kriegerin, sondern Kriegermutter, Kriegerwitwe.
Vielleicht hatten die Denkmalbauer auch das Nibelungenlied im Sinn, dessen blutiger Hauptschauplatz Worms keine hundert Kilometer flussaufwärts liegt.
Wer, wenn nicht Brünhild und Kriemhild, sind die Ahnfrauen des germanischen Schlachtenweibs, das jeden Mann (außer Siegfried) das Zittern lehrt?
Nicht nur die nährende, tröstende Mütterlichkeit des Vaters Rhein und dass ihm eine starke Beschützertochter zur Seite gestellt wurde, sorgten dafür, dass sich im 19. Jahrhundert unter seiner Oberfläche ein weiterer Strudel der Geschlechterverwirrung bildete. Wieder war es Heinrich Heine, der eine deutsche Bizarrerie als Erster witterte. Im Wintermärchen ließ er den alten Vater die Sorge aussprechen, dass die Deutschen aus ihm die »reinste Jungfer« gemacht hätten. Die Sorge war berechtigt. Allerdings war an seiner Jungferisierung weniger der verhasste Niklas Becker schuld als vielmehr sein eigener Name. In einem Land, das so reinheitsfanatisch ist und so sehr zur Sprachmystik neigt wie Deutschland, heißt man nicht folgenlos »Rhein«.
»I drove to the Rhine River and went across on the pontoon bridge. I stopped in the middle to take a piss and then picked up some dirt on the far side in emulation of William the Conqueror.« Dies soll US-General George S. Patton im März 1945 gesagt haben. Ob das Bild wirklich der Beweis dafür ist, dass er in den Rhein gepisst hat?
Ausgerechnet in der Wiege des deutschen Katholizismus schickte sich der Rhein an, als unbefleckter Vater der heiligen Mutter Maria Konkurrenz zu machen. Welchen Sinn - wenn nicht den, etwas als »rein« Verehrtes zu entweihen - hätte es sonst gehabt, dass französische Soldaten nach erfolgreicher Rheinüberschreitung offenbar regelmäßig in eben jenen hineinpinkelten? »Dass ich keine reine Jungfer bin, / Die Franzosen wissen es besser, / Sie haben mit meinem Wasser so oft / Vermischt ihr Siegergewässer.« So beschrieb Heine den eigenwilligen Brauch. Selbst General George S. Patton soll sich - nachdem die dritte US-Armee in der Nacht vom 22. auf den 23. März 1945 den Rhein bei Nierstein überquert hatte - Zeit für das alte »Pissing-in-the-Rhine«-Ritual genommen haben. Bei den Händlern militärischer Devotionalien kursieren noch immer Fotos, die behaupten, den denkwürdigen Augenblick zu zeigen.
Fern von solchen Niederungen befand sich Hölderlin, als er die vierte Strophe seiner Rhein-Hymne mit dem Satz begann: »Ein Rätsel ist Reinentsprungenes.« Im Gedicht geht es mitnichten um die christlichen Mysterien der Jungfrauengeburt. Erzählt wird das Leben des Rheins, der »aus heiligem Schöße glücklich geboren« zu den wenigen Auserwählten zählt, zu den »Halbgöttern«, die »frei bleiben« ihr Leben lang, ganz gleich, ob sie sich einen Weg durch feindlichste Umwelt bahnen müssen (wie in der engen Schlucht der Via Mala) oder sich die Landschaft ihnen harmonisch anschmiegt (wie im Oberrheintal).
Der deutsche Obersprachmystiker der Neuzeit, der Philosoph Martin Heidegger, deutete Hölderlins Rheingedicht zum großen Weltgesang über Schicksal und Freiheit aus. Der Rhein als »Reiner«, der »Reine« als einzig »Freier«, weil für ihn der eigene Wille und der Widerstand, den ihm die Umwelt leistet, kein Widerspruch sind: So munter kann deutsche Theoriebildung strömen. Da hilft es nichts, wenn nüchterne Etymologen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und darauf hinweisen, dass der Rhein seinen Namen mit größter Wahrscheinlichkeit dem indogermanischen Wortstamm »rei« wie »fließen« verdankt und ganz sicher mit keiner wie auch immer gearteten Reinheit verwandt sei. Der reine Rhein klingt einfach zu gut,
Weitere Kostenlose Bücher