Die deutsche Seele
ärger.« Als ihn die Turnergemeinde Limburg um Unterstützung bat, erklärte der Vorturner, der einst geschwärmt hatte, »unermesslich bleibt der Vereine Gebiet, sie wirren und schlingen endlose Ketten«, dass er »allen Verkehr mit den Turngemeinden« abgebrochen und diese selbst verloren gegeben habe. Der Grund für seine schroffe Ablehnung dürfte weniger darin gelegen haben, dass er die Limburger im Verdacht hatte, »rot« zu sein - als vielmehr darin, dass es ihn abstieß, wie unpolitisch die einst von ihm ins Leben gerufene Bewegung geworden war.
Das restriktive preußische Versammlungsrecht, das die Verbiedermeierung des Vereinswesens geradezu erzwungen hatte, indem es jegliche »Beratung politischer Angelegenheiten in Vereinen« verbot, lockerte sich durch den ersten deutschen Demokratieversuch nur für kurze Zeit. Im August 18 51 sorgte die Gegenrevolution dafür, dass der Grundrechtskatalog der Bundesversammlung, der das freie Vereins- und Versammlungsrecht eingeräumt hatte, wieder vollständig aufgehoben wurde. Selbst wenn die abermals feudal regierten deutschen Staaten, allen voran Preußen, die Entstehung von politischen Vereinen, sprich: Parteien, in den folgenden Jahrzehnten nicht verhindern konnten, ließen sie keinen Zweifel daran, dass ihnen der unpolitische Turner, Sänger und Student deutlich genehmer war als der revolutionär erhitzte Felgaufschwinger, Hymnenschmetterer und Burschenschaftler.
Wenn der Soziologe Georg Simmel recht hat, dass »das gesellige Leben eine spielerische Vorwegnahme des idealen Staates« ist, dann wünschten sich die Deutschen im 19. Jahrhundert einen kleinen ordentlichen Staat mit übersichtlicher Satzung, in dem jeder pünktlich seine Mitgliedsbeiträge beim Kassenwart einzahlte, während über allen Streitigkeiten der Vorstand thronte.
»Einsam baut der Uhu seinen / Horst in Wäldern wild und roh, / Aber einzig in Vereinen / Wird der Mensch des Daseins froh.«
Die schönste Schilderung der deutschen Vereinsmentalität stammt denn auch von Johannes Trojan, der im wilhelminischen Kaiserreich Chefredakteur des satirischen Wochenblattes Kladderadatsch war: »Lasst uns in Vereine treten, / Denn dazu ja sind sie da. / Hilfreich durch Sozietäten / Tritt der Mensch dem Menschen nah. // Einsam bleibt wie eingerammelt / Jeder auf demselben Fleck, / Doch indem er sich versammelt / Strebt der Mensch zu höhrem Zweck. // Lasset uns Statuten machen, / Denn darauf kommt es ja an, / Dass man etwas überwachen / Oder es verändern kann. // Wenn wir nicht das Richt’ge trafen, / Ist erst recht die Freude groß; / Mit dem Streit um Paragraphen / Geht das wahre Leben los […] Lasst uns Stiftungsfeste feiern, / Denn das ist die höchste Lust; / Und wir schlagen froh die Leiern / Unsres hohen Ziels bewusst. // Einsam baut der Uhu seinen / Horst in Wäldern wild und roh, / Aber einzig in Vereinen / Wird der Mensch des Daseins froh.«
Heute gibt es in Deutschland über 600 000 Vereine. Doch sind es nicht nur bierselige Kegelbrüder, Karnevalisten oder Dackelfreunde, die sich organisieren und beim Amtsgericht eintragen lassen. Kein Milieu will sich nachsagen lassen, es produziere einsame Uhus - und so reicht das zeitgenössische Spektrum vom »Vegetarierbund Deutschland« bis zum »Verein zur Förderung und Erhaltung traditioneller nordhessischer Wurst«, von der »Selbsthilfe-Initiative Väter ohne Kinder« bis zu den »Schwullesbischen Bahnfreunden Flügelrad«, vom »Angelsportverein >Ruhig Blut<« bis zu »Richtig bewegen - Beinleiden verhindern«, von den »Göttinger Freunden der antiken Literatur« bis zum »Verein zur Förderung alternativer Hip-Hop-Kultur«, von »Frauen lernen wieder lachen« bis »Stille Trauer e. V«.
Alle diese Vereine beweisen, dass sich der Deutsche endgültig vom »Immer-einsiedlertum« verabschiedet hat, auch wenn er nach wie vor den Selbstverdacht hegt, er leide unter mangelnder sozialer Grazie, und sein Sozialleben deshalb lieber mit Satzungen, Statuten und Paragraphen absichert. Die Krone erringt er, wenn das Finanzamt seinem Verein die »Gemeinnützigkeit« bescheinigt. Dann darf er seine Jahresbeiträge bei der nächsten Steuererklärung absetzen, worum es ihm aber gar nicht geht, schließlich ist seine Tätigkeit als gemeinnütziges Vereinsmitglied dadurch gekennzeichnet, dass sie »die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos« fördert.
Vielleicht gelingt es dem ADAC mit seinen über 17 Millionen
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