Die deutsche Seele
dem Zweiten zum leidenschaftlichen Waldgänger zu werden: »Der Wald ist heimlich. Das Wort gehört zu jenen unserer Sprache, in denen sich zugleich ihr Gegensatz verbirgt. Das Heimliche ist das Trauliche, das wohl geborgene Zuhause, der Hort der Sicherheit. Es ist nicht minder das Verborgen-Heimliche und rückt in diesem Sinne an das Unheimliche heran.«
Ganz gleich, ob heimlich oder unheimlich - der Wald vermag nur den in seinen Bann zu schlagen, der sich nach einem Ort jenseits der Zivilisation sehnt. Wer im deutschen Wald lustwandeln will, und sei’s mit wohligem Schauer, der muss noch Dickicht in sich tragen. Aber gibt es dieses Dickicht da draußen überhaupt noch? Ist das Dickicht nicht längst in unseren Städten angekommen, und findet sich der, dessen unbehauste Seele den Wald sucht, nicht einzig im wohlgeordneten Forst wieder?
»Wer hat dich, du schöner Wald / Aufgebaut so hoch da droben?«, fragte zu Beginn des 19. Jahrhunderts Joseph Freiherr von Eichendorff mit heiligem Staunen und versprach: »Wohl den Meister will ich loben, / So lang noch mein’ Stimm’ erschallt.« Ein kaltes Jahrhundert später erhielt der deutsche Waldpoet, der ein preußisches Beamtenleben lang nicht aufhören konnte, seine oberschlesischen Kindheitswälder anzusingen, die spöttische Antwort: »Der Meister ist ein Forstmeister, Oberforstmeister oder Forstrat, und hat den Wald so aufgebaut, dass er mit Recht sehr böse wäre, wenn man darin seine sachkundige Hand nicht sofort bemerken wollte. Er hat für Licht, Luft, Auswahl der Bäume, für Zufahrtswege, Lage der Schlagplätze und Entfernung des Unterholzes gesorgt und den Bäumen jene schöne, reihenförmige, gekämmte Anordnung gegeben, die uns so entzückt, wenn wir aus der wilden Unregelmäßigkeit der Großstädte kommen.«
Mit dieser Einschätzung lag der österreichische Schriftsteller Robert Musil richtig. Und daneben zugleich. Das Verhältnis von deutscher Waldver- und -entzauberung ist verschlungener. Es stimmt: Die Deutschen sind Weltmeister, wenn es darum geht, Forst straff und »nachhaltig« zu bewirtschaften. Das älteste Lehrbuch der Forstwissenschaft, die Sylvicultura oeconomica, stammt von Hannß Carl von Carlowitz, einem sächsischen Oberberghauptmann. Veröffentlicht wurde es 1713, zu einer Zeit, da es um die gesamten mittel- und westeuropäischen Urwälder nicht mehr gut bestellt war - von den südeuropäischen Wäldern ganz zu schweigen, die von den Griechen und Römern bereits in der Antike erbarmungslos abgeholzt worden waren. Wald war Baustoff, Brennstoff, Weideland. Städte und Bergwerke fraßen den Wald mit wachsender Gier. Doch nur die Deutschen beunruhigte der »große Holz-Mangel«, wie es bei Carlowitz im Untertitel heißt, schon damals so sehr, dass sie begannen, systematisch aufzuforsten.
Jener Untertitel ist es wert, genauer betrachtet zu werden: Der Pionier der Forstwirtschaft verspricht dort nämlich eine »Anweisung zur wilden Baum-Zucht«. Dürfen wir einem, der für das grandios paradoxe Konzept der »wilden Zucht« plädiert, unterstellen, dass ihm das Herz erst aufgeht, wenn er Bäume in Reih und Glied stehen sieht, wie Musil es unterstellt? Ein anderer Gründervater der deutschen Forstwissenschaft erklärte gar: »Die Wälder bilden sich und bestehen also da am besten, wo es gar keine Menschen und folglich auch keine Forstwissenschaft gibt.« Ist dies die Sprache ordnungswütiger Baumbändiger?
An keinem lässt sich die Ambivalenz der deutschen Forstwirtschaft im Märchenwald besser ablesen als an Johann Heinrich Jung-Stilling. Der Enkel eines Köhlers war Augenarzt, außerdem in den verschiedensten technisch-ökonomischen Wissensgebieten zu Hause und einer der bekanntesten Dichter der Empfindsamkeit obendrein. 1777 veröffentlichte er den ersten Teil seiner Autobiographie und erzählte darin die Geschichte von Jorinde und Joringel: »Es war einmal ein altes Schloss mitten in einem großen dicken Wald; darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberin […]« Ein Märchen, so romantisch versponnen, dass es in der Sammlung der Gebrüder Grimm nicht fehlen durfte. Und dennoch war es derselbe Jung-Stilling, der ein zweibändiges Lehrbuch der Forstwirtschaft schrieb, in welchem er unter anderem empfahl, die Wildbestände zu kontrollieren, um den Wald zu schützen.
Im Märchen rettet Joringel seine zur Nachtigall verzauberte Jorinde, indem er die blutrote Blume findet, von der er des Nachts geträumt hat. Im
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