Die deutsche Seele
dagegen die Grundstimmung, in welcher die deutsche Angst vorm Waldsterben in den 1980er Jahren in die Welt hinausposaunt wurde. »Wir stehen vor einem ökologischen Hiroshima«, orakelte Der Spiegel. Und der Stern verkündete: »Die Reihen der Bäume lichten sich wie Armeen unterm Trommelfeuer.« Mitten im bundesrepublikanischen Wohlstandsfrieden verlangten überschäumende Zivilisationskritiker: »Was das Waldsterben von uns fordert, ist die totale Umstellung unseres Produktions- und Reproduktionssystems - und die wiederum erfordert die totale Revision unserer sogenannten Werte. Darunter läuft nichts mehr.« Hätte der bayerische Schriftsteller und Ökoaktivist Carl Amery nicht lieber den Schumannschen Waldszenen lauschen sollen anstatt dem propagandistischen Sound des »Totalen«? Oder wenigstens dem Prosagedicht seines westfälisch-badischen Dichterkollegen Otto Jägersberg, der 1985, auf dem Höhepunkt der Erregung, klagte:
»Das ewige Reden über den Sauren Regen / macht den Wald ganz krank / Niemand geht mehr in ihm rum / und bewundert ihn / Alle bemitleiden ihn nur noch / Kein Leben für den Wald.« Franzosen und Amerikaner lachen heute noch, wenn sie »le/the waldsterben« sagen.
Sorge um den Wald ist eine Sache. Geschrei im Gewand der Sorge eine andere. Und jene Sorge schließlich, um die es am Schluss einzig geht, die Sorge, selbst nicht mehr zu sein, während die Wälder immer noch rauschen, lässt sich nicht beruhigen, indem man sie ins Gegenteil travestiert, die Wälder könnten nicht mehr sein, während die Menschheit immer noch rauscht.
Du kannst den Wald sterblicher machen, als er ist. Du kannst dich mit schuldzerknirschter Miene zu seinem Retter aufspielen. Nur kannst du nicht erwarten, dass er dich zur Belohnung weniger sterblich macht, als du bist. Am besten, du legst die Rüstung ab, gehst leise hinein in den Wald und bittest ihn, eines Tages für immer in ihm verschwinden zu dürfen.
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Wanderlust
Der Nebel hockt noch im Tal, ich bin schon auf den Beinen. Allein mit mir und Berg und Wald und Strom und Feld. »Wer forschen und lernen will auf der Wanderschaft, der gehe allein«, habe ich am Vorabend bei Wilhelm Heinrich Riehl gelesen. »Nur der einsame, kunstgeübte Wanderer, der sein Reisegepäck selber auf dem Rücken trägt und seinen Schulsack obendrein, findet den raschen Blick und die nie erlahmende Spannkraft zum rastlosen Beobachten.« Der Mann muss es wissen. Schließlich war er der erste deutsche Volkskundler.
Die Luft ist kühl, die Vöglein freuen sich, der Alltagszwinger öffnet seine Türen mit jedem Schritt. Die Stadt hinter mir muss schon ganz klein sein. Würde ich mich umdrehen, könnte ich meine Finger auf dem einzigen Hochhaus spazieren gehen lassen. Ich will mich nicht umdrehen.
Am Wegesrand entdecke ich blaue Blumen, von denen ich einmal wusste, wie sie heißen. Hätte ich nur das Botanik-Büchlein mitgenommen. Im Rucksack wäre zwischen der Wasserflasche, dem Brot und dem Käse noch Platz gewesen. Aber ich habe gelernt: Vom Nötigen nur das Notwendigste einpacken…
Der Weg beginnt, sich aufwärtszuwinden, die Atmung wird schwerer. Nicht deshalb bleibe ich stehen - ich weiß, dass nicht stehen bleiben darf, wer seinen Tritt finden will. Ich lausche. Ist es ein Reh oder anderes Wild, das ich dort am Hang rascheln höre? Schritte sind es, die mir im Wald entgegenkommen, entschlossene, rasche Schritte, und im nächsten Augenblick sehe ich einen jungen Mann mit dunklem, leicht gelocktem Haar um die Wegkehre biegen. Ich will ihn grüßen, im Frühtau zu Berge wir geh ‘n, faltera, doch da erkenne ich ihn. Berühmter ist das Bild, das die Welt sich von ihm als grantigem Greis gemacht hat: Arthur Schopenhauer. Die Stirn gesenkt, das Gesicht verschlossen nähert er sich, die ganze Gestalt ein Warnschild: »Sprich mich nicht an!«
Doch dann bleibt er stehen, wenige Meter entfernt von mir, und flüstert, ohne aufzublicken: »Die Philosophie ist eine hohe Alpenstraße, zu ihr führt nur ein steiler Pfad über spitze Steine und stechende Dornen: Er ist einsam und wird immer öder, je höher man kommt, und wer ihn geht, darf kein Grausen kennen, sondern muss alles hinter sich lassen und sich getrost im kalten Schnee seinen Weg selbst bahnen. Oft steht er plötzlich am Abgrund und sieht
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