Die deutsche Seele
unten das grüne Tal: Dahin zieht ihn der Schwindel gewaltsam hinab; aber er muss sich halten und sollte er mit dem eigenen Blut die Sohlen an den Felsen kleben.«
»Aber wir sind doch nur im Mittelgebirge«, möchte ich einwenden. Stattdessen senke auch ich den Blick und murmle: »Wer kann steigen und schweigen? Das haben Sie doch geschrieben? Mein Vater hat es immer zitiert, wenn wir wandern gingen.« Ist es ein Lächeln, das über Schopenhauers Gesicht huscht, bevor er mich stehen lässt?
Wer wandern will, der schweig fein still, tritt an am frühen Morgen, geh steten Schritt, nehm’ nicht viel mit, und lass daheim die Sorgen …
Weiter zieht der Pfad hinauf, zieht mich mit sich hinauf, ich beginne, keinen Unterschied mehr zwischen mir und dem Grund zu spüren: Äste, Wurzeln, Felsen - nicht länger Stolperfallen, sondern Teil der gemeinsamen Wanderschaft. Es ist, als ob die Natur ihr Einverständnis mit meinem Tempo andeuten wollte. Ganz anders, als wenn sie an Zug- oder Autofenstern vorbeifliegt, wo sie stets in entgegengesetzter Richtung zu fliehen scheint.
Alle Wege schreiten, alle Flüsse gleiten, alle Winde reiten auf dem Wolkenpferd. Wälder hergwärts steigen, Hügel ziehen Reigen, allesamt sich neigen vor der Sonne sich …
Hinter mir höre ich Männerstimmen. Die zwei können keine Wanderer vom Schweigeorden sein. Ich verlangsame den Schritt und lasse sie aufschließen, ich ertrage es nicht, wenn andere mich vor sich hertreiben.
»Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt«, sagt der mit dem schweren Tornister aus Seehundfell. »Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbstständigste in dem Manne, und ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge.« Johann Gottfried Seume, der Dichter, der im Jahre 1801 von Leipzig nach Syrakus losspaziert ist. Und der Mürrische neben ihm in der Kniebundhose ist Thomas Bernhard. »Wir müssen gehen, um denken zu können«, ergänzt er. »Wenn wir gehen, kommt mit der Körperbewegung die Geistesbewegung.«
»Wo alles zu viel fährt, geht alles sehr schlecht: Man sehe sich nur um! So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft«, sagt Seume und schwenkt seinen schweren Knotenstock.
Plötzlich bedaure ich es, dass ich keinen Wanderstock dabeihabe. Den letzten habe ich vor dreißig Jahren in die Ecke gestellt. Bei Oma und Opa. Meinen kleinen neben die zwei großen. Zum Erwachsenen-Wanderstock habe ich es nie gebracht. Wanderstöcke sind nur etwas für Kinder und Senioren - dachte ich. Edelweiß und Hirschgeweih, Mummelsee und Wilder Kaiser, Breitachklamm und Nesselwang … Was bin ich für eine fleißige Stocknagelsammlerin gewesen, wie hatte ich mich gefreut, wenn der Opa mit mir in die Werkstatt ging, um das neueste Wappen mit zwei winzigen Nägeln an den Stock zu schlagen! Blaueishütte, Wimbachschloss, Hinterzarten, Bischofsmais, Rattenberg und In der Eng…
Ich nähere mich einer Lichtung und treffe ein Dutzend Jungen bei der Rast, nur die Klampfe mag nicht ruhen: »Ihr Wandervögel in der Luft, im Ätherglanz, im Sonnenduft in blauen Himmelswellen, euch grüß’ ich als Gesellen! Ein Wandervogel bin ich auch, mich trägt ein frischer Lebenshauch, und meines Sanges Gabe ist meine liebste Habe.«
Sie sehen aus wie Handwerker auf der Walz, fahrende Scholasten aus dem Mittelalter. Schlapphüte werden in der Morgenluft geschwungen, einige Jungen baden ihre Füße im Bach, andere werfen Steine nach einem morschen Stumpf. Der Älteste von ihnen - schwer zu sagen, ob noch Student oder schon Lehrer - ruft: »Schauen Sie sich meine hurtigen Buben nur an! Würden Sie denken, dass schon fünf stramme Wanderstunden hinter ihnen liegen? Hinaus aus dem Ruß und dem Steinstaub und der quetschenden Enge unserer Städte! Wandern, viel wandern! Stillt den Hunger der Stadtkinder nach unverbrauchter Luft, nach weitem Feld und hohem Himmelsdom, ihre Sehnsucht nach Baumesgrün und Waldesschatten, nach wogenden Kornfeldern und weltfernen Wiesen, nach dem tiefen Frieden ländlicher Gegenden!«
Ich habe nichts gegen die Wandervögel, die vor über hundert Jahren aufgebrochen sind, das Leben jenseits des staubigen Schulwegs zu erkunden. Dennoch würde ich nicht mit ihnen ziehen wollen. Mein Unterwegssein scheut den Oberhäuptling, Unterhäuptling, kennt keine Bachanten und Scholaren, meidet die Horde.
Kaum ist das
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